Riesling zum Abschied
wir von der Mordanklage runterkommen. |147| Ich kenne den Ermittlungsrichter Altmann, ich kenne die Kammer, vor der wir verhandeln werden. Man muss die richtige Strategie verfolgen. Sie soll ihn ziemlich gequält haben, diese Alexandra Lehmann, ihn unter Druck gesetzt, ihn hingehalten haben, und das verträgt«, er zögerte, »unser junger Mann in dem Alter nicht. Deshalb wird es auf Totschlag im Affekt hinauslaufen. Die gesamten Umstände deuten darauf hin.«
»Kennen Sie denn die Aktenlage?« Johanna war verblüfft, auch dass der Rechtsanwalt anscheinend bemerkt hatte, dass ihr die Formulierung »glückloser Student« missfiel. »Stern ist doch gerade erst verhaftet worden.«
Marquardt sprang in die Bresche. »Ich sagte Ihnen bereits ja, wie wichtig es ist, jemanden zu haben, der über die entsprechenden Verbindungen verfügt.«
Die Selbstgefälligkeit der Männer stieß Johanna ab. Sie sonnten sich in ihren Erfolgen. Machte sie das blind für die realistische Einschätzung der Situation? Erreichten die Empfindungen und Gedanken anderer sie überhaupt noch, oder waren sie dagegen längst immun?
»Sie gehen also alle von Sterns Schuld aus?«, fragte sie in die Runde.
Waller zuckte mit den Achseln und blickte Marquardt an, der nickte, und Vormwald antwortete mit einem Anflug von Bedauern: »Wir werden uns nicht um die Wahrheit herumdrücken können, so leid es uns tut.«
Die Wahrheit? Die kannten sowieso nur Täter und Opfer, aber das arme Mädchen konnte sich nicht mehr äußern. Oder doch? Dazu müsste man die Zeichen zu lesen verstehen und wissen, was Zeichen waren. Johanna tat so, als rieche sie konzentriert am Wein in ihrem Glas, hob versonnen den Kopf und nahm einen Schluck.
»Wer aufmerksam wahrnehmen will, muss mit jeder Faser, mit jedem Rezeptor erfassen, was der Wein sagt«, meinte Marquardt, der sie beobachtete.
|148| Johanna bezog ihre Entgegnung nicht nur auf den Wein. Es galt genauso gut für die Zeichen. »Zuerst sind jedoch Empfindungen da, dann beginnt das Denken, man kann analysieren, seine Eindrücke aussprechen und letztlich, wenn man konsequent ist, danach handeln.«
Sie sah erstaunte Blicke auf sich ruhen, ja sie las darin, dass man sie bisher unterschätzt hatte, die Männer wurden endlich wach. Es war jetzt angebracht, entschuldigend oder hilflos zu lächeln, um nicht zu viel preiszugeben. »Es wäre schön, wenn man es schaffen würde, sich immer daran zu halten – meinen Sie nicht?« Eine Brücke musste gebaut werden, denn sie bemerkte, dass die Runde sie jetzt mit anderen Augen sah. »Sie, Herr Waller, sagten vorhin etwas von Raubeinen aus Gigondas. Ich trinke gern Rotwein, aber sind diese Weine nicht eher als Begleiter zum Essen gedacht? Lamm, habe ich gehört, soll sehr gut zu einem Wein aus Gigondas passen, Wildschwein ...«
»Woher wissen Sie denn das schon wieder?« Als auch die Freunde Waller ermunterten, ging er zu seinem Käfig und entnahm ihm eine Flasche, auch eine Dekantierkaraffe stand bereit. Der Wissenschaftsmakler, was immer man sich darunter vorstellen konnte, entkorkte die Flasche, wobei er darauf achtete, dass der brüchige Korken nicht beschädigt wurde. Hätte man nicht Glas statt der Gitter nehmen können?, fragte sich Johanna, denn die Käfige ringsum ließen in ihr ein Gefühl von Gefahr entstehen. Dass hier die ganze Zeit über Kameras liefen, hatte Marquardt ihr gleich bei der Ankunft erzählt.
»Man muss schließlich wissen, wer sich im Keller aufhält. Stellen Sie sich vor, später fehlten Flaschen. Wenn Diebe wissen, dass sie gefilmt werden, versuchen sie es lieber anderswo.«
»Es ist immer wieder erstaunlich, dass Riesling länger lagern kann als gemeinhin bekannt und als dieser Rotwein mit einem kräftigen Tanningerüst«, meinte Vormwald. |149| »Wein macht mich hungrig. Ich schlage vor, wir essen im ›Krug‹. Da kann Freund Waller seine Flaschen mitnehmen.«
»Eine, Otto, nur eine. Von der zweiten an muss ich Korkgeld bezahlen. Ich spendiere den Wein und ihr mein Essen.«
»Lass dich nicht lumpen«, sagte Vormwald in gespielter Entrüstung.
»Zehn Jahre Lagerung für ein Spitzengewächs sind gar nichts. Aber manche Gigondas verkraften das nicht«, warf Marquardt ein.
»Meine schon.« Waller mochte sich von seinem Lieblingsthema gar nicht trennen. »Einen mache ich noch auf, sozusagen als Einstimmung. Sie auch, Frau Breitenbach?«
»Hast du nicht zugegehört, Peter?«, fragte Marquardt, »die Frau Kollegin mag Rotweine. Und diese
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