Riesling zum Abschied
zerknirschtes Gesicht. »Er ist wie alle Leute, mein Vater ist genauso. Von Manuel wollte er nichts hören. Ich wollte nicht, kaum dass ich ihn kennengelernt habe, einen Streit anfangen.« Regine roch lustlos an ihrem Weinglas und stellte es zurück auf den Küchentisch.
»Weshalb bist du auf ihn abgefahren, was interessiert dich an ihm?«
»Er sieht gut aus, ich finde ihn männlich, er weiß, was er will, und er lässt sich nicht beeinflussen.«
»Hast du dir einen Typen geangelt, der so ist wie dein Alter? Einer, der nichts lernen will, der andere Menschen verachtet und trotzdem meint, dass er die Ansagen machen kann? Macht das den Umgang miteinander leichter? Das sind für dich bekannte Muster. Wie ist denn sein Wein? Genauso?«
»Bist du bei Manuel dem Gefängnispsychologen begegnet? Du bist gemein.«
»Nein, ich bin offen. Du hast eben gesagt, ich soll mir |232| Thorstens Weinberg ansehen. Das sagst du nicht ohne Hintergedanken. Zwischen seinen Reben ist wahrscheinlich alles totgespritzt. Du hast seinen Wein sicher probiert – Mainstream in der Literflasche, oder? Vielleicht einen CLASSIC als qualitativen Ausreißer nach oben? Es würde mich freuen für dich, wenn es anders wäre.«
»Leider hast du recht. Es kann schließlich nicht jeder so ehrgeizig sein wie du.« Regine hörte sich traurig an. »Aber sei nicht so eingebildet.«
»Meinst du nicht, dass es mehr Spaß macht, sich nach oben zu orientieren statt nach unten?«
»Glaubst du nicht, dass das eine Frage des Charakters und der Erziehung ist?«
»Doch, aber du hast einen Besseren verdient.«
»Willst du meinen Papa ablösen und mir sagen, was gut für mich ist?«
Thomas sah den verschmierten Lidstrich in Regines Gesicht. Bisher hatte sie sich so gut wie nie geschminkt, und deshalb war ihr nicht klar, dass sich ein dicker schwarzer Balken über ihre rechte Wange zog, das linke Auge sah aus, als hätte sie einen Bluterguss. Thomas ging ins Bad, holte Regines Handspiegel, die Kosmetiktücher und ihr Schminktäschchen, legte alles vor sie hin und lächelte. Dann trat er ans Küchenfenster. Er blickte auf die Straße. Er wollte weg, er wollte nach Hause, sich auf den Schlepper setzen und pflügen, er wollte lieber von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang Triebe in die Spanndrähte einflechten, es war Zeit dafür, oder Kartons packen, an der Abfüllmaschine Flaschen zählen, sie an sich vorüberziehen sehen und sich von ihrem Klirren die Gedanken aus dem Kopf treiben lassen. Bloß nicht nachdenken. Manuel würde nach dem Desaster mindestens noch zwei Monate im Knast bleiben müssen.
»Du solltest noch was wissen.« Regine seufzte bedeutungsschwer. »Ich sage es dir ungern, bitte reg dich nicht |233| wieder so auf, aber es wäre falsch, dir das zu verheimlichen. Du kriegst anscheinend gar nichts mehr mit, du bist ja kaum noch an der FH.«
Bei dieser Einleitung kann nur wieder etwas Schreckliches rauskommen, dachte Thomas. »Red endlich, schlimmer kann’s nicht werden.«
»O doch. Man hat dich zusammen mit Johanna Breitenbach gesehen.«
»Na und? Sie ist schließlich unsere Dozentin.« Thomas verstand nicht, worauf Regine hinauswollte. »Außerdem arbeitet sie für unser Weingut.«
»Man hat dich nachts gesehen, als du aus ihrer Wohnung gekommen bist, drüben in Bingen ...«
Es dämmerte Thomas, was Regine ihm zu verstehen geben wollte. Er ging in die Knie und zog unwillkürlich den Kopf ein – aber nicht, um sich zu verstecken, nicht um zurückzuweichen, sondern um seinen Schwerpunkt zu verlagern, wie er es beim Kampfsport gelernt hatte, um seine Mitte zu finden, den sicheren Stand, aus dem heraus er den Angriff führen konnte. So hatte es ihm der Chinese beigebracht, mit der offenen Hand zu kämpfen, wenn man von drei Gegnern gleichzeitig angegriffen wird. In dieser Haltung konnte er sich sammeln und gewann sein Selbstvertrauen zurück, das ihm die Nachricht von dem gescheiterten Haftprüfungstermin genommen hatte.
Es war wie ein Automatismus. Die Schultern senkten sich, seine Atmung stellte sich auf den tiefen Schwerpunkt ein, und er sah Kommissar Sechser vor sich, wie er Manuel voller Verachtung den Kopf nach unten gedrückt hatte, als brächten sie ihn zur Hinrichtung. Er selbst wäre niemals freiwillig mitgekommen, sie hätten ihm Hand- und Fußfesseln anlegen müssen.
Er blickte Regine an, und sie erwiderte seinen Blick ganz offen. Wenn sie Respekt einforderte, dann war es auch an ihm, Respekt zu zeigen. Dabei sein Ziel nicht aus den
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