Rigor Mortis: Thriller Ein neuer Fall für Roy Grace (German Edition)
dem Boden verstreut bis auf einen Arm und eine intakte Hand, die von einem Metallrohr hingen und von einer Kette mit Vorhängeschloss gehalten wurden. Tooth hatte nicht riskieren wollen, dass die Ratten die Fesseln zernagten und den Mann versehentlich befreiten.
Er drehte sich um und half dem Jungen, sich aufrecht gegen die Wand zu setzen, so dass er den Blick auf das Skelett genießen konnte. Irgendetwas an ihm sah anders aus. Die Brille fehlte. Tooth leuchtete mit der Taschenlampe, fand sie und setzte sie dem Jungen wieder auf.
Der Junge starrte ihn an. Als er die menschlichen Überreste sah, weiteten sich seine Augen voller Entsetzen.
Tooth kniete sich hin und riss ihm das Klebeband vom Mund.
»Alles in Ordnung, Kleiner?«
»Eigentlich nicht. Nein. Ich will nach Hause. Ich will zu meiner Mum. Ich habe solchen Durst. Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?«
»Du stellst ganz schön viele Fragen.«
Tyler schaute zu dem Skelett.
»Der sieht nicht gerade gesund aus. Was meinst du, Kleiner?«
»Männlich, zwischen fünfzig und sechzig. Osteuropäer.«
Tooth runzelte die Stirn. »Willst du mir weismachen, du könntest das erkennen?«
»Ich beschäftige mich mit Archäologie und Anthropologie. Könnte ich jetzt bitte etwas Wasser haben – und hungrig bin ich auch.«
»Du bist ein ganz schöner Klugscheißer, was?«
»Ich habe nur Durst. Warum haben Sie mich hergebracht? Wer sind Sie?«
»Dieser Typ liegt seit sechs Jahren hier. Niemand weiß von diesem Ort. Seit sechs Jahren ist keiner mehr hier gewesen. Was hältst du davon, sechs Jahre hier unten zu verbringen?«
»Nicht viel«, erwiderte Tyler.
»Das kann ich mir vorstellen.«
Tyler nickte zustimmend. Der Typ schien ein bisschen verrückt zu sein. Verrückt, vielleicht aber auch in Ordnung. Jedenfalls kaum verrückter als einige seiner Lehrer.
»Was hat der Mann getan?«
»Er hat jemanden beschissen. Kapiert?«
Tyler zuckte mit den Schultern. »Okay.« Seine Stimme war ein trockenes, verängstigtes Krächzen.
»Wir müssen was klären, Kleiner. Denk mal nach. Wir haben nämlich ein großes Problem. Es hat mit den Gezeiten zu tun.«
Tyler starrte ihn an. Dann schaute er zitternd zu dem Skelett. Würde er in sechs Jahren auch so aussehen?
»Gezeiten?« Der Mann holte ein gefaltetes Blatt aus dem Rucksack und klappte es auseinander.
»Verstehst du was davon, Kleiner?«
Er hielt ihm das Blatt vors Gesicht und richtete die Taschenlampe darauf. Der Junge betrachtete es und warf einen Blick auf die Armbanduhr des Mannes.
»Zwei Stunden vor und nach Niedrigwasser können keine großen Schiffe in den Hafen einlaufen«, sagte Tooth.
Er starrte auf die Tabellen, in denen unter den Überschriften HW und LW jeweils Uhrzeiten angegeben waren. Daneben stand In Metern über Seekartennull.
»Das ist nicht so einfach. Es sieht aus, als wäre um 23.31 Uhr Niedrigwasser gewesen, aber ich bin mir nicht sicher. Das würde heißen, dass die Schiffe erst nach 1.31 Uhr wieder den Hafen befahren können.«
»Sie haben das falsche Datum«, erwiderte Tyler. »Heute geht es erst um 2.06 Uhr. Wollen Sie mich auf ein Boot bringen?«
Tooth antwortete ihm nicht.
108
SEIT DAS CHILD RESCUE ALERT ausgegeben worden war, standen die Telefone in der Soko-Zentrale 1 nicht mehr still. Die Entführung von Tyler Chase hatte es auf die meisten Titelseiten der Abendzeitungen und in die Radio- und Fernsehnachrichten geschafft. Es war jetzt 0.30 Uhr, und in den vierzehn Stunden seit der Entführung hatte so ziemlich jeder, der nicht gerade wie ein Einsiedler lebte, Tylers Namen erfahren und sein Foto irgendwo gesehen.
Im Raum herrschte so viel Hektik wie sonst um die Mittagszeit. Roy Grace hatte das Jackett ausgezogen, die Ärmel aufgerollt und die Krawatte gelockert. Er studierte eine Liste der Vorgehensweisen aller zurzeit bekannten Auftragsmörder, die Detective Inspector Lanigan ihm gemailt hatte. Da sie ihre Suche nicht auf die USA beschränken wollten, hatte man auch die europäischen Polizeibehörden informiert, deren Rückmeldungen allmählich eingingen.
Bisher passte jedoch keine auf ihren Mann.
Angesichts der häufigen Kennzeichenwechsel hatte Grace sämtliche Polizeidienststellen in Großbritannien aufgefordert, jeden dunklen Toyota Yaris zu durchsuchen, ob nun dunkelgrau oder nicht. Er wollte jedes Risiko vermeiden, eine mögliche Farbenblindheit der Zeugen eingeschlossen.
Möglicherweise hielt sich der Junge bereits im Ausland auf, obwohl sämtliche Flughäfen,
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