Rigor Mortis: Thriller Ein neuer Fall für Roy Grace (German Edition)
suchte sie nicht nach dem Richtigen, sondern einfach nach einem Mann, mit dem sie ausgehen und Spaß haben könnte.
Bushcraft? Was zum Teufel sollte das heißen? Aus Erfahrung wusste sie, dass viele Begriffe in den Kontaktanzeigen eine doppelte Bedeutung besaßen. Woran geilte sich dieser Typ auf? Dass er nackt durch den Wald lief? Zurück zur Natur? Schoss er mit Pfeil und Bogen auf Tiere? Ansonsten klang es ganz gut. Aber Bushcraft? Nein danke.
Wenn er Fossilien oder Archäologie erwähnt hätte, für die sich Tyler interessierte, hätte sie ihm vielleicht eine Chance gegeben. Nun aber sah sie im Geiste einen bärtigen Freak vor sich, der aus einem klapprigen Landrover stieg und einen Cowboyhut und eine Unterhose aus Gras trug. Sie wunderte sich über nichts mehr.
Es war lange her, dass sie mit einem Mann geschlafen hatte. Über ein Jahr. Es war eine Katastrophe gewesen. Und das Mal davor auch. Alle Verabredungen waren richtige Katastrophen gewesen, und Preston-Dave war nur der Letzte in einer langen Reihe.
Er hatte ihr am Wochenende drei weitere SMS geschickt, die sie alle gelöscht hatte.
Mein Gott, es war fünf Jahre her, und noch immer vermisste sie Kes ganz furchtbar.
Die Mandanten sagten oft, sie flöße ihnen Selbstvertrauen ein, weil sie so taff sei. Doch in Wirklichkeit war sie überhaupt nicht taff. Das war nur gespielt. Eine Maske. Die Carly-Chase-bei-der-Arbeit-Maske. Wäre sie wirklich taff gewesen, hätte sie ihre Mandanten nach Feierabend vergessen können. Doch das konnte sie nicht, jedenfalls nicht alle.
Kes hatte manchmal gesagt, sie kümmere sich zu sehr um ihre Mandanten und lasse sich von ihren Problemen herunterziehen. Doch sie konnte nichts dagegen tun. Gute Ehen wie ihre verliehen einem eine wunderbare innere Stärke und das Gefühl, ein erfülltes Leben zu führen. Schlechte Ehen wie die ihrer Mandanten, die weinend und zitternd vor ihr saßen und mit unsicherer Hand Erklärungen unterschrieben, waren die reinsten Gefängnisse.
Der Argus hatte jeden Tag Berichte über den Unfall gebracht, nur heute nicht, weil die Zeitung am Sonntag glücklicherweise nicht erschien. Am Donnerstag hatte die Schlagzeile die Belohnung von 100000 Dollar angekündigt, die die Familie des toten Jungen für Hinweise auf den Fahrer des Lieferwagens ausgesetzt hatte. Auf der zweiten Seite war ihr Foto zu sehen: Anwältin aus Brighton verhaftet.
Auch gestern, am Freitag, war sie in der Zeitung gewesen. Der Unfall hatte es bis in die großen Tageszeitungen, die Boulevardblätter und heute sogar in die Sunday Times geschafft. Die Sensation war, dass es sich bei Tony Revere um den Enkel des New Yorker Mafia-Paten Sal Giordino handelte. Reporter hatten sogar bei ihr in der Kanzlei angerufen, doch auf Anraten ihres Kollegen und Anwalts Acott hatte sie nicht mit ihnen gesprochen. Eigentlich hätte sie es gerne getan – um zu erklären, dass sie den Unfall weder verursacht hatte noch mit dem Radfahrer zusammengestoßen war.
Zu Hause und in ihrem Leben schien alles schiefzugehen, was nur schiefgehen konnte. Sie war in düsterer Stimmung. Das Montagmorgen-Gefühl stellte sich zwölf Stunden zu früh ein, wie so oft seit ihrer Kindheit.
Seit Kes’ Tod waren die Sonntagabende am schlimmsten. Etwa um diese Zeit vor fünf Jahren waren zwei Polizisten vor ihrer Tür aufgetaucht. Ein Beamter der Royal Canadian Mounted Police aus Whistler in Kanada hatte sich über Interpol mit ihnen in Verbindung gesetzt und darum gebeten, ihr mitzuteilen, dass ihr Ehemann beim Heliskiing von einer Lawine verschüttet worden und vermutlich umgekommen war. Nach weiteren vier Tagen bangen Wartens, in denen sie entgegen aller Vernunft auf ein Wunder gehofft hatte, hatte man seine Leiche geborgen.
Sie hatte oft mit dem Gedanken gespielt, das Haus zu verkaufen und in einen anderen Stadtteil zu ziehen. Andererseits wollte sie Tyler ein stabiles Umfeld bieten, und mehrere Freundinnen und ihre Mutter, an der sie sehr hing, hatten sie in den Monaten nach Kes’ Tod gebeten, keine übereilten Entscheidungen zu treffen. Und so wohnte sie nach vier Jahren immer noch hier.
Von außen war das Haus nicht sonderlich attraktiv. Sechzigerjahre, roter Ziegelstein, Doppelgarage im Erdgeschoss, ein hässlicher Anbau mit hässlichen doppelverglasten Fenstern, die die Vorbesitzer eingebaut hatten und die Carly und Kes eigentlich austauschen wollten. Aber sie hatten das riesige Wohnzimmer mit der Terrassentür geliebt, durch die man in einen hübschen,
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