Rigor Mortis: Thriller Ein neuer Fall für Roy Grace (German Edition)
sanft abfallenden Garten gelangte. Es gab zwei kleine Teiche, einen Steingarten und ein Sommerhäuschen, das Kes und Tyler als Männerbude eingerichtet hatten. Tyler spielte dort gerne Schlagzeug, während Kes seine Zigarren geraucht und nachgedacht hatte.
Kes und Tyler hatten einander sehr nahegestanden, waren nicht nur Vater und Sohn, sondern richtige Kumpel gewesen. Sie gingen zusammen zu jedem Heimspiel von Albion. Im Sommer angelten sie, schauten sich Kricketspiele an oder besuchten Tylers Lieblingsort in Brighton, das Booth Museum of Natural History. Sie standen einander so nahe, dass Carly manchmal fast eifersüchtig gewesen war und sich irgendwie ausgeschlossen gefühlt hatte.
Nachdem Kes gestorben war, hatte Tyler das Schlagzeug in sein Zimmer gestellt und war nie wieder ins Sommerhaus gegangen. Er hatte sich lange zurückgezogen. Sie hatte sich große Mühe gegeben, war sogar mit ihm zum Fußball und zum Kricket gegangen und hatte einen Angeltrip vom Yachthafen aus unternommen, bei dem sie furchtbar seekrank geworden war. Sie hatten eine gewisse Nähe entwickelt, aber es blieb eine Lücke, die sie einfach nicht schließen konnte. Der Geist seines Vaters würde immer zwischen ihnen stehen.
Sie betrachtete einen größer werdenden braunen Fleck auf der Tapete gegenüber. Feuchtigkeit. Das Haus fiel um sie herum auseinander. Sie musste eine Entscheidung treffen, entweder gründlich renovieren oder endlich ausziehen. Aber wohin? Außerdem gefiel es ihr noch immer. Sie spürte die Anwesenheit von Kes, vor allem hier im Wohnzimmer.
Sie hatten es gemütlich eingerichtet, zwei große Sofas vor dem Fernseher und ein elektrischer Kamin mit flackernden Flammen. Auf dem Kaminsims standen Einladungen zu Partys und Hochzeiten, die sie, nachdem Kes von der alljährlichen Skireise mit seinen Freunden zurückgekehrt wäre, gemeinsam besuchen wollten. Carly hatte es nicht übers Herz gebracht, sie wegzuwerfen. Sicher, es war, als steckte sie in einer Zeitschleife. Eines Tages würde sie nach vorn blicken. Aber jetzt noch nicht. Sie war noch nicht dazu bereit.
Und nach den traumatischen Erlebnissen der vergangenen Tage war sie es weniger denn je.
Sie schaute zu Kes’ Foto hinüber, das zwischen den Einladungen stand. Es war an ihrem Hochzeitstag aufgenommen worden, als er im Cut mit gestreifter Hose und Zylinder in der Hand auf der Wiese vor der All Saints Church in Patcham gestanden hatte.
Er war groß und gutaussehend gewesen, mit zerzaustem pechschwarzen Haar und einer gewissen arroganten Sorglosigkeit. Hinter der Fassade, die er im Gerichtssaal nutzbringend einzusetzen wusste, war er jedoch ein freundlicher und erstaunlich unsicherer Mann gewesen.
Sie trank noch Wein und wedelte einen besonders widerlichen Furz von Otis weg, der zu ihren Füßen schlief. Dann stellte sie den Fernseher lauter. Normalerweise kam Tyler ins Zimmer gestürmt und rollte sich neben ihr auf dem Sofa zusammen, weil Top Gear seine Lieblingssendung war. Eine der wenigen, die sie sich zusammen anschauten. Vor allem an diesem düsteren, regengepeitschten Abend brauchte sie seine Gesellschaft mehr denn je.
»Tyler!«, rief sie. » Top Gear fängt an!«
Damit weckte sie Otis, der aufsprang, die Ohren spitzte und plötzlich knurrend aus dem Zimmer lief.
Jeremy Clarkson, wie immer in grellbunter Jacke und Baggy Jeans, redete über einen neuen Ferrari. Sie hielt die Sendung an, damit Tyler nichts verpasste.
Seit dem Unfall war er in einer seltsamen Stimmung. Sie wusste nicht, woran es lag, aber es beunruhigte sie. Fast kam es ihr vor, als gäbe er ihr die Schuld an den Ereignissen. Doch wenn sie den Unfall zum tausendsten Mal im Geist durchspielte, gelangte sie wieder zum gleichen Schluss: dass sie keine Schuld traf. Selbst wenn sie nicht von ihrem Handy abgelenkt gewesen wäre und eine Sekunde früher gebremst hätte, wäre der Radfahrer trotzdem ausgewichen und von dem Lieferwagen angefahren worden.
Oder nicht?
Plötzlich hörte sie die Hundeklappe in der Küche, dann bellte Otis wie wild im Garten. Was war da los? Manchmal schlichen Füchse umher, und sie fürchtete, dass ihr Hund irgendwann einen angreifen und in ihm seinen Meister finden könnte. Sie sprang auf, doch als sie in die Küche kam, kehrte Otis gerade hechelnd zurück.
»Tyler!«, rief sie noch einmal, doch ihr Sohn antwortete nicht.
Sie ging nach oben. Hoffentlich schaute er sich die Sendung nicht in seinem Zimmer an. Doch zu ihrer Überraschung saß er am Schreibtisch,
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