Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)
Mir hat das Ganze keine Ruhe gelassen, bis ich irgendwann die Post abgefangen habe – einen Brief meiner Mutter aus dem Baumettes-Gefängnis in Marseille … In der Bar, in der sie arbeitet, hatte es eine Razzia gegeben … Sie hat nicht lange bekommen … Aber sie schrieb, dass es ihr das Herz bricht, ausgerechnet während der Ferien zu sitzen.«
»Hast du sie seitdem gesehen?«
»Ja, sie war Weihnachten hier.«
»Und, hast du mit ihr darüber gesprochen?«
»Nein … Ich sehe sie nicht sehr oft … Ich wollte es nicht kaputtmachen.«
»Verstehe.«
»Was ich dir sagen will: Egal, was mit deiner Mutter ist, du darfst niemals glauben, dass sie absichtlich etwas tun würde, was dich verletzen könnte. Mütter können die schlimmsten Dinge tun, aber es gibt keine Mutter auf der Welt, die ihre Kinder nicht liebt.«
»Ja …«
Während Brice mir das sagte, klingelte die Schulglocke im Hintergrund, es war wie im Film. Und als es aufhörte zu klingeln, machten uns die plötzliche Stille und Verlassenheit auf dem Schulhof ein wenig verlegen.
»He, Brice, glaubst du, Kaspar Hauser wäre so jung gestorben, wenn er im Wald geblieben wäre?«
Siebtes Kapitel
10 Uhr 30
Ich habe eine zweifelhafte Gabe, und zwar weiß ich immer genau, wie spät es ist. Ohne auf die Uhr zu schauen, meine ich. Man könnte glauben, in meinem Kopf würde eine Uhr ticken. Wenn Sie mich sehen, können Sie Ihre Uhr zu Hause lassen, mit mir kommen Sie nie zu spät. Ich glaube, ich habe das von meiner Mutter. Was Pünktlichkeit angeht, ist sie furchtbar streng. Ich muss meinen ganzen Tag durchprogrammieren. Um 16 Uhr 30 verlässt du die Schule. Um 16 Uhr 35 kaufst du dir einen Eistee in der Bäckerei. Dein Fußballtraining beginnt Punkt 17 Uhr. Um 16 Uhr 50 kommst du dort an. Du bleibst in der Umkleidekabine. Du spielst bis 18 Uhr 30. Du ziehst dich um. Um 18 Uhr 40 verlässt du das Stadion. Um 18 Uhr 50 siehst du den Wohnturm vor dir aufragen. Um 18 Uhr 55 bist du zu Hause, spätestens Punkt 19 Uhr, wenn der Aufzug außer Betrieb ist. Das ist ganz schön heftig, kann ich Ihnen sagen. Und zu Hause geht es so weiter. Hausaufgaben. Dusche. Abendessen. Fernsehen. Zähneputzen. Schlafengehen. Ein Leben wie ein Roboter! Und ich kann von Glück reden, dass ich nicht verrückt werde und nachts so weitermache, wenn ich schlafe. Erster TraumPunkt 22 Uhr. Zweiter Traum um 22 Uhr 45. Alptraum um Mitternacht … Aber Träume dauern angeblich nur wenige Sekunden. Als ich das erfahren habe, war ich total von den Socken. Mir kommt es nämlich immer so vor, als würden meine Träume wochenlang dauern. Ganze Filme laufen da ab, mit einem Anfang und einem Ende. Und massenhaft Figuren. Und einer oscarreifen Story. Das alles soll sich in zwei Sekunden abspielen? Ich zermartere mir das Hirn ständig mit irgendwelchen Fragen und habe überlegt, dass es das Beste wäre, wenn ich mich mit einem Wissenschaftler anfreunden würde. Bestimmt wüsste der die Antworten. Neulich habe ich eine Fernsehsendung mit so einem Wissenschaftler gesehen. Was super war: Ich hab tatsächlich verstanden, was er sagte. Hätte ich die Telefonnummer meines Physiklehrers gehabt, ich hätte ihn angerufen und zu ihm gesagt:
»He, schalt mal den Fernseher ein – da ist ein Typ wie du, nur mit dem Unterschied, dass man ihn versteht!«
Während der Sendung stellte der Moderator dem Forscher zahlreiche Fragen. Werden in Zukunft Hinz und Kunz zum Mars fliegen? Glauben Sie an ein außerirdisches Leben? Ein Haufen bescheuerter Fragen. Zum Schluss aber hat er eine gestellt, die auch mir immer unter den Nägeln brennt. Werden wir eines Tages in der Zeit reisen können? Und da gab der Wissenschaftler eine Antwort, bei der es mir kalt den Rücken runterlief. Er sagte, nein, denn sonst wüssten wir es bereits. Wenn in dreitausend Jahren Menschen eine Zeitreise unternähmen, würden sieJesus, Hitler oder wer weiß wem begegnen. Sie hätten todsicher Spuren hinterlassen. Und dann wüsste man, dass sie eine Zeitreise unternommen haben. Oder sie würden uns vor bestimmten Dingen warnen. So von wegen, passt auf dieses Baby auf, das gerade geboren wurde. Jetzt sieht es ganz süß aus, aber später einmal wird es die Erde in die Luft sprengen. Typen wie diesem Forscher könnte ich wochenlang zuhören.
Dass ich Ihnen das mit den Zeitplänen jetzt erzählt habe, bevor ich auf das zu sprechen komme, was ich eigentlich auf dem Herzen habe, hat damit zu tun, dass ich sehr unglücklich war, weil ich mich
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