Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)
nicht dort befand, wo ich hätte sein sollen. Dass man das Gefühl bekommt, nicht dazuzugehören, geht ganz schnell. Man muss nur einmal nach rechts abbiegen anstatt nach links, und auf einmal ist alles ganz anders.
Auf dem Weg zur Cité Berlioz machte mein Magen dauernd Geräusche. Ich war noch nicht oft dort gewesen. Weil ich dort einfach nichts verloren habe. Vor allem aber, weil es dort unheimlich ist. Es ist die erste Cité, die erbaut wurde, und das sieht man sofort. Sie sieht aus wie eine Stadt nach dem Krieg, nur dass es dort keinen Krieg gegeben hat. Außerdem musste ich gleich wieder an diese Sache mit der Zeitreise denken. Man braucht sich dieses Viertel nur anzusehen, um zu begreifen, wie die anderen bald aussehen werden. Das hat nichts mit Zauberei zu tun. Es ist nur eben so, dass alle diese Viertel nach demselbenMuster entworfen wurden. Und wenn Sie herkämen, würden Sie sich verlaufen.
Um von meiner Schule zur Cité Berlioz zu gelangen, muss man an einem Haufen Einfamilienhäuser vorbeigehen. Es ist deprimierend, durch diese Straßen zu laufen. Ich sage Ihnen, man kommt sich vor wie auf einem Friedhof. Das einzig Gute daran ist, dass Mélanie Renoir in einem dieser Häuser wohnt. Es liegt nicht direkt am Weg, aber es ist auch nur ein kleiner Umweg. Also, jedes Mal, wenn ich in diese Richtung gehen muss, mache ich einen Umweg, um bei Mélanie vorbeizukommen. Ihr Haus ist nicht anders als die anderen. Weder schöner noch größer. Aber ich finde es großartig, weil es eben ihres ist. Und alles, was mit ihr zu tun hat, finde ich großartig. Neulich hatte sie sich ein Tuch um den Hals gebunden, als sie in die Schule kam. Mann, ich hasse Leute, die sich Tücher um den Hals binden, das sieht doch total albern aus. Aber an Mélanie sah es toll aus, ehrlich. Sie sollten sie mit ihrem Tuch sehen, Sie würden sich sofort auch eins umbinden. Mélanie ist nicht in meiner, sondern in der Parallelklasse. Weil sie Deutsch als erste Fremdsprache hat. Wir haben Englisch. Die Schüler, die Deutsch nehmen, kommen alle aus den Vierteln mit den Einfamilienhäusern. Und die Eltern wählen Deutsch, damit ihre Kinder nichts mit uns zu tun haben. Es gibt drei Englischklassen und eine Deutschklasse. Und die hat das höchste Niveau. Sie sind etwas Besonderes. Auf dem Hof oder in der Schulkantine stehen sie immer zusammen und lassen sich niemit den anderen ein. Ich kenne Typen, die versucht haben, Schüler aus der Deutschklasse zu verprügeln oder zu erpressen, was ihnen aber nicht gelungen ist, denn sie sind untereinander extrem solidarisch oder marschieren gleich zu ihren Eltern oder zur Direktorin. Ich komme mir in ihrer Anwesenheit immer ein wenig minderwertig vor. Erst mal, weil sie zweimal so groß sind wie ich, und dann auch, weil sie mich als Nichtsnutz betrachten oder als einen von den Typen, die nur Probleme machen. Ich würde mir wünschen, dass sie mich cool finden und dass Mélanie mich sehen könnte, wenn ich mit ihnen spreche, in der Pause, beim Rausgehen oder sonst wo.
Lange Zeit habe ich nicht so richtig mit Mélanie geredet. Nur zwei Mal, und das waren nicht gerade abendfüllende Gespräche.
Das erste Mal war am Anfang des Schuljahrs, nur zwei Tage nach dem Ende der Ferien. Wir hatten noch keine feste Sitzordnung in der Kantine, und alle setzten sich aufs Geratewohl irgendwohin. Ich saß mit Karim und Brice an einem Tisch, wir aßen schon, da kam Mélanie und setzte sich mir quasi gegenüber. Ich wäre beinahe gestorben. Mir wurde mit einem Mal ganz schlecht, aber ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, weil meine beiden Kumpels mich genauso durchschauen wie meine Mutter. Dabei haben Karim und Brice gar nicht darauf geachtet, was mit mir los war. Sie haben einfach weitergeredet, während ich mit der Frage beschäftigt war, ob Mélanie sich absichtlich dort hingesetzt hatte oder ob esZufall war. Nach circa zwei Minuten hat sie dann die Leute aus ihrer Klasse an einem anderen Tisch entdeckt und ist aufgestanden und zu ihnen hinübergegangen.
Ich war am Boden zerstört.
Ich sagte ja anfangs, wir hätten uns unterhalten. Das stimmt auch, bevor sie sich nämlich hinsetzte, hatte sie mich gefragt:
»Ist da frei?«
Und ich:
»Ja, klar!«
Bonjour l’amour.
Das zweite Mal war vor einem Monat. Das ist schon ein anderes Kaliber gewesen. Ich war mit meiner Mutter im Kino. Wir hatten uns irgendeinen doofen Film angesehen, den ich gleich vergessen habe, und das ist auch gut so. Meine Mutter und ich
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