Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)
ich mir wohl auch einen Wald suchen. Es wäre sozusagen umgekehrt, ich müsste alles vergessen, was man mir beigebracht hat, um auf den Bäumen zu leben. Die Sache ist allerdings, dass es hier in der Ecke gar keine Wälder gibt. Ich könnte höchstens auf einen Straßenbaum klettern, ich wüsste nicht, wo sonst hier ein Stück Natur aufzutreiben wäre.
Ich war völlig versunken in meine Kaspar-Hauser-Wolfsjungen-Phantasien, als die Klingel ertönte.
Große Pause.
Sechstes Kapitel
10 Uhr 15
Die Pause dauert zwanzig Minuten, die schnellsten zwanzig Minuten der Welt. Die Zeit reicht gerade für zwei kurze Dribblings und um nach Mélanie Renoir Ausschau zu halten, dann heißt es schon wieder ab in den Käfig.
Ich fand übrigens, dass die Schüler, die aus dem Gebäude strömten, tatsächlich wirkten wie eine Horde wilder Tiere. Normalerweise gehöre ich dazu. Alles schreit herum und rennt durcheinander, wie auf der Flucht vor einem Löwen oder einem Gespenst. Nur die älteren Schüler gucken finster und zünden sich lässig eine Zigarette an.
Da! Ich entdeckte meine Freunde schon von weitem: Karim, Brice, Yéyé, Kader und Nicolas Gasser, der eigentlich gar nicht in unsere Klasse ging, sich aber trotzdem immer bei uns herumdrückte.
Als sie mich hinter dem Gitter stehen sahen, kamen sie sofort auf mich zugelaufen; ich glaube, sie freuten sich, mich zu sehen, ehrlich. Das hat mich sehr berührt. Es war, als wäre ich von weit her gekommen und wir hätten uns dreißig Jahre lang nicht mehr gesehen.
Yéyé – Überraschung, Überraschung – sagte als Erster etwas.
»Sag mal, Charly, du bist heute nicht in der Schule?«
Dann hat Karim übernommen: »Nee, siehst du doch!«
Yéyé fragte weiter: »Bist du krank?«
Karim antwortete wieder für mich: »Nee, siehst du doch!«
»Wieso? Er könnte ja auf dem Weg zum Arzt sein.«
»Wenn er rausgehen kann, um zum Arzt zu gehen, könnte er auch in die Schule kommen!«
Es gibt nur wenige Mittel, um solche Dialoge zu stoppen. Man kann schreien. Oder man kann etwas wirklich Wichtiges sagen.
»Heute Morgen hat die Polizei meine Mutter mitgenommen!«
Sie sahen mich an, dann sagte Karim oder Brice: »Was?«
»Als ich gerade zur Schule gehen wollte, sah ich, wie zwei Bullen und eine Frau, die aussah wie Madame Boulin, die Treppe zu uns hochkamen. Ich hab mich hinter der Tür zum Gang versteckt und musste mitansehen, wie sie meine Mutter abgeführt haben.«
»Was hat deine Mutter denn verbrochen?«
»Keine Ahnung.«
Meine Freunde kennen meine Mutter. Schon seit Ewigkeiten. Sie wissen, was das für eine Frau ist. Sie respektieren sie. Sie sagen »Guten Tag, Madame« zu ihr. Auch wenn sie eine Million Mal bei mir übernachtet haben, sagen sie noch Madame zu ihr. Man könnte uns für elende Heuchler halten, wenn wir so wohlerzogen tun. Aber in solchen Momenten ist es eher Scham oder Schüchternheit. Es gibtehrbare Menschen. Ehrbare Menschen, die hart arbeiten, um uns großzuziehen.
»Ist es wegen deinem Bruder?«
»Dachte ich auch erst … Aber sie haben auch meine Mutter gesucht … Sie haben ihren Namen genannt …«
Karim meinte: »Ich will dir keine Angst einjagen, aber das erinnert mich an die Geschichte, die Mario Ferdine aus dem Raubvogel-Viertel passiert ist …«
»Mario Ferdine – ist der nicht im Knast?«
»Ja, ist er … zusammen mit seiner Mutter!«
»Und warum?«
»Na ja, erst mal haben die Bullen Mario geschnappt, weil er wie bescheuert gedealt hat … Die Sache ist, dass er mit einem Teil des Geldes für das Dope nicht nur seine Mutter und das Studium seiner jüngeren Schwester, sondern eigentlich seine komplette Familie finanziert hat. War natürlich ein Problem, als er nun saß und keiner mehr Geld rangeschafft hat … Die Mutter hat dann Marios Zimmer durchkämmt und ein riesiges Paket mit Stoff gefunden. Sie ist sofort runter auf die Straße gegangen, zu den Jungs, mit denen Mario immer abhängt, und hat von den kleinen Päckchen erzählt … Sie haben vereinbart, dass die Jungs sich um das Verticken kümmern. Und das ist wohl gründlich schiefgegangen, die Jungs flogen auf und haben Marios Mutter als ihre Lieferantin benannt.«
Yéyé, wie immer sehr feinfühlig, sagte zu mir: »Dann ist deine Mutter also eine Dealerin.«
»Spinnst du, oder was? Sie ist keine Dealerin! Undmein Bruder ist auch kein Dealer. Er ist drogenabhängig. Wenn meine Mutter wegen Drogen ins Gefängnis müsste, dann nur aus einem einzigen Grund, weil sie
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