Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)
hast recht … Ich habe Angst … Ich habe Angst, und ich schäme mich. Wie alle Junkies.«
»Du brauchst doch nur aufzuhören.«
»Ich schaff’s nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil ich hier bin.«
»Dann hau doch ab von hier.«
»Genau … Ich sollte abhauen.«
Mein Bruder senkte den Kopf, er zischelte etwas, eigentlich war es eher ein Seufzer. Ich dachte in dem Augenblick weder an meine Mutter noch an das, was Henry mir erzählt hatte. Ich dachte an meinen Bruder. Er saß direkt vor meiner Nase, und ich dachte an ihn, wie ich abends vor dem Einschlafen an ihn denke, wenn ich sein leeres Bett neben mir anstarre. Menschen, die es schwer haben, fehlen einem auch, wenn sie da sind.
Henry schaute mich an, und ich fühlte mich unbehaglich.Ich wollte ihm sagen, wie sehr ich ihn liebte. Dass ich ihn mehr liebte als alles andere. Dass er mein Lieblingsbruder war.
»Was hast du, Charly?«
»Nichts … Hast du zufällig etwas zu essen?«
»Nein … Hast du Hunger?«
»Ja, ich falle gleich um.«
Er kramte in seiner Tasche und zog einen zerknitterten Fünf-Euro-Schein hervor.
»Hier, hol dir was in der Bäckerei.«
»Aber dann hast du doch gar nichts mehr.«
»Mach dir keine Sorgen. Nimm es.«
Ich nahm den Schein und war schon wieder den Tränen nahe.
Henry steckte den Kopf zwischen die angewinkelten Knie. Er zischelte oder seufzte weiter und wiegte sich hin und her. Ich glaube, er folgte dem Wind.
Ich tat dasselbe.
Es gelang mir, in völligem Dunkel zu verschwinden. Meine Knie und meine Hände schützten mich vorm Licht. Ich folgte dem Wind und blies auch ein wenig. Es war warm. Angenehm. Ich fühlte mich in Sicherheit, wie vorhin in der Baracke mit Freddy Tanquin. Ich wäre gern … Ich wäre gern Jahre so sitzen geblieben. Und dann aufgestanden, als richtiger Mann. Vielleicht dachte Henry dasselbe. Er kam hierher und versank in dieser Position, als würde er in eine Zeitmaschine einsteigen. Er wollte als ein anderer aufwachen. Oder an einem anderenOrt. Oder jünger. Ich weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist, die Leute sind ganz unterschiedlich – die einen wollen wieder ganz jung sein, um neu anzufangen, und die anderen älter, um endlich überhaupt anzufangen.
Als ich den Kopf wieder hob, blendete mich das Licht. Henry stand vor mir und sah mich an.
»Was machst du?«
»Ich muss los, Charly.«
»Wohin gehst du?«
»Ich hab was vor.«
»Kann ich mitkommen?«
»Nein … Ich kann dich nicht mitnehmen.«
»Glaubst du, wir sehen uns später?«
Henry beugte sich zu mir und küsste mich oben auf den Kopf.
»Wir sehen uns, ganz bestimmt … Soll ich dir beim Runterklettern helfen?«
»Nein, schon gut, ich komm klar.«
Henry zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch und lief hastig den Berg hinunter.
Ich hatte das Gefühl, dass der Wind noch stärker blies, seit mein Bruder weg war. Vielleicht war das normal, und wenn ich mit einem der Wissenschaftler befreundet gewesen wäre, hätte ich ihn gebeten, mir das zu erklären.
Plötzlich hörte ich Henry nach mir rufen. Ich stand auf, um ihn sehen zu können.
»He, Charly!«, rief er von ganz unten. Er hielt die Hände wie einen Trichter vor dem Mund.
Ich legte auch die Hände an den Mund.
»Was denn?«
»Weißt du, das gelbe Hemd … das war meins, als ich klein war.«
Dreizehntes Kapitel
15 Uhr 40
Nachdem Henry weg war, blieb ich noch eine Weile auf dem Gipfel des schwarzen Berges zurück. Ich hatte Angst, dass mein Bruder mir fehlen könnte, wie meine Mutter. Seltsamerweise habe ich beim Hinabsteigen schon nicht mehr darüber nachgedacht. Aber solche Dinge holen einen später wieder ein, darauf kann man sich verlassen. So wie die Kugeln, die im Bauch explodieren. Meistens spürt man sein Glück nicht in dem Moment, wo man glücklich ist, und am schlimmsten ist, dass sich dieses Glück oft in Traurigkeit verwandelt.
Ich verließ Saint-Ex, um zu meiner Schule zurückzukehren. Ich hatte mich ja um halb fünf mit meinen Kumpels am Ausgang verabredet. Ich wäre gern vorher bei den Rolands vorbeigegangen, doch dazu fehlte mir jetzt die Zeit. Man braucht eine Dreiviertelstunde bis zu ihnen. Sie wohnen kurz vor Paris.
Wenn ich das Wort Paris ausspreche, überläuft mich ein Schauer.
Paris.
Da, schon wieder.
Tatsache ist nämlich: Ich liebe Paris.
Ich war einmal dort. Mit der Schule. Wir waren im Musée Picasso. Ich fand das irre, weil das Viertel gleich um die Ecke von mir zu Hause ja auch so heißt.
Der Bus war gerade
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