Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)

Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)

Titel: Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Samuel Benchetrit
Vom Netzwerk:
losgefahren, als unser Lehrer sagte:
    »Kinder, wir fahren jetzt ins Museum von Picasso.«
    Yéyé brüllte nach vorn:
    »Na, dann können wir ja gleich wieder aussteigen!«
    Wir johlten alle, weil wir genau in dem Augenblick an der Cité Picasso vorbeifuhren. Witze leben davon, dass sie im richtigen Moment gemacht werden.
    Als wir dann in Paris vor besagtem Museum ankamen, blieb uns die Spucke weg. So etwas Schönes! Wir glotzten wie bescheuert, als wir dieses Juwel sahen, man hätte ein Schild mit der Aufschrift »Behindertentransport« hinten ans Fenster pappen können.
    Für uns ist »Picasso« nämlich nur ein grauer Betonriegel mit einem Rasen voller Löcher und Hundescheiße, mit schmutzigen und unbeleuchteten Hausfluren. Für uns ist Picasso hässlich. Daher hat es uns umgehauen, als wir vor diesem Museum standen.
    Ich weiß nicht, ob Sie schon mal dort waren, wenn nicht, dann müssen Sie das auf jeden Fall nachholen! Es ist einfach zu finden, es sieht aus wie ein Schloss mitten in Paris.
    Wir waren total aufgeregt, als wir aus dem Bus stiegen, wollten sofort ins Museum stürmen, die Bilder sehenund so. Leider wirkten wir wie eine Horde Verrückter. Weshalb uns die Begleitlehrer erst mal eine Lektion erteilten und uns sagten, wie wir uns zu verhalten hätten. So ist das immer. Wenn sie uns an die Leine legen könnten, sie würden es tun.
    Wir mussten zwei Stunden an der Kasse anstehen. Es waren viele Schulklassen da, aber den Vogel schossen wir ab. Vor allem, als Yéyé rumzugrölen begann, dass er es satt hätte, Schlange zu stehen, um sich ein paar blöde Schinken anzusehen. Voll peinlich. Zum Glück gibt es in jeder Schule der Welt einen Yéyé. Und sie erkennen sich immer. Ein anderer Junge brüllte, er würde gern mal diesen Picasso sprechen. Noch ein anderer Yéyé, aus einer weiteren Klasse, rief, er kenne Picasso persönlich – der habe bei ihm zu Hause die Toiletten angemalt.
    Als wir endlich hineingehen durften, stockte uns der Atem, so beeindruckt waren wir. Es war wie mit der Stille in der Proust-Bibliothek. Man musste durch einen ewig langen Korridor, bevor das erste Bild kam. Dann hieß es wieder warten, denn davor hatte sich bereits eine Menschentraube versammelt. Wir hätten ja in der Zwischenzeit ein anderes anschauen können, doch unsere Begleiter wollten, dass wir uns brav anstellten.
    Ich war sehr gespannt auf das Bild. Als ich dran war, klopfte mir das Herz bis zum Hals.
    Ich hatte das Gefühl, Picasso persönlich zu begegnen.
    Auf einer großen Leinwand erblickte ich einen Mann. Einen Mann, der Angst machte. Seine Augen sahen michdirekt an, und ich erstarrte. Es wirkte, als wäre er lebendig und hier in den Rahmen eingezwängt. Der Mann war spindeldürr. Man konnte sehen, dass er nicht ordentlich aß. Jedenfalls sah er arm aus. Und erschöpft. Als hätte er eine lange Reise hinter sich und Berge und Wälder durchwandert. Nach einer Weile, als ich mich an seinen Blick gewöhnt hatte, stellte ich fest, dass eigentlich er derjenige war, der Angst hatte. So ist es ja oft: Die Leute, die selbst Schiss haben, flößen anderen Angst ein. So wie Kaspar Hauser, als er aus dem Wald kam.
    Ich dachte an meinen Bruder Henry, weil er dem Mann auf dem Bild ähnelte. Und Picasso hätte Henry bestimmt gern gemalt, wenn er ihn gekannt hätte.
    Schön waren auch die Farben. Wirklich wunderschön. So schöne hatte ich noch nie gesehen. Irgendwann glaubt man ja, man hätte alle Farben schon mal gesehen. Wenn man Blau, Rot und Grün kennt, hat man sie ja alle durch. Aber Picasso hat neue erfunden. So als ob ihm die aus der Natur nicht genügten. Einige dieser Farben leuchteten so sehr, als wären sie erst gestern aufgetragen worden, dabei ist das Bild schon ganz alt, und die Farben leuchten immer noch.
    Neben dem Bild hing ein Schildchen mit dem Datum und dem Titel darauf.
Autoportrait
stand da auf Französisch. Ich fragte Brice, was das bedeutete, und er erklärte mir, dass dies ein Bild war, das Picasso von sich selbst gemalt hatte, und als ich mir das Wort noch einmal vorsagte,
Autoportrait
, fand ich, dass es genau das richtige war. Seitdemhabe ich viele weitere Wörter gelernt, die mit
Auto beginnen
. Autograph. Automat. Autodidakt. Autonom. Einige kannte ich auch schon. Automobil. Autobus. Autoradio.
    Jetzt also wusste ich, dass der arme Mann auf dem Bild Picasso selbst war. In Anbetracht des Datums musste er sehr jung gewesen sein, als er das Bild gemalt hatte, und ich fand es traurig, dass ein Mann

Weitere Kostenlose Bücher