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Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)

Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)

Titel: Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Samuel Benchetrit
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sollte bei Proust zu suchen. Die Bibliothek. Und jetzt Saint-Ex.
    Henry sah mich an, während ich ihm mein Herz ausschüttete. Zum Schluss kicherte er ein wenig und war dann mit einem Satz neben mir.
    »Komm mit!«
    »Wohin denn, Henry?«
    »Nach da.«
    Er deutete in eine Richtung, aber das sagte mir nichts, vielleicht weil sich hier alles ziemlich ähnelt, oder weil alles nach nichts aussieht.
    Wir überquerten den Parkplatz vor den Gebäuden und kamen zu einem unbebauten Gelände. Henry schien diesen gespenstischen Ort wie seine Westentasche zu kennen. Es wehte ein starker Wind, wir hörten ihn tosen, über das Gesumme der elektrischen Kabel hinweg. Nichts bot uns mehr Schutz.
    Schließlich standen wir vor ein paar Erdhügeln. Es waren ein gutes Dutzend, die höchsten ragten bis zu dreißig Metern auf. Und sie waren pechschwarz. Genau das Gegenteil von echten, schneebedeckten Bergen.
    Wir liefen zum Fuß des höchsten Berges.
    »Wir klettern doch nicht da rauf?«
    »Warum … Bist du nicht schwindelfrei?«
    »Doch.«
    Ich folgte Henry, der schon ein Stück hochgeklettert war. Also, ein Kinderspiel war das nicht, denn unter mir fing die Erde ganz schön an zu bröckeln. Unsere Füße versanken, und wir mussten uns mit den Händen abstützen. Plötzlich stolperte ich und wäre beinahe runtergestürzt, wenn Henry mich nicht am Arm gepackt hätte. Er half mir auf, legte seine Hand auf meinen Po und schob mich hinauf bis zum Gipfel.
    Dort oben war es eben, ich war erleichtert, man musste also nicht herumbalancieren. Es war flach wie ein Parkplatz oder der Treppenabsatz eines Gebäudes. Henry tratan den Rand, und bei dem Wind, der nun noch stärker blies, hatte ich Mühe, es ihm gleichzutun.
    Wir betrachteten die Landschaft. Es war beeindruckend, mir wurde schwindlig. Saint-Ex liegt ja schon sehr hoch, aber jetzt hier oben auf dem Berg kam es mir vor, als wäre ich im Himmel.
    Die ganze Banlieue erstreckte sich vor uns, ringsherum.
    Tausende von Türmen. Gittern. Einkaufszentren. Grünflächen. Fabriken. Lagerhallen. Schulen. Fußballplätzen. Baulücken. Neonlichtern. Fenstern. Eingangshallen. Antennen.
    Ich habe mich in diesem Augenblick gefragt, wie viel ein Blick eigentlich aushalten kann.
    Henry zündete sich eine Zigarette an. Er raucht mindestens tausend Kippen pro Tag.
    »Sag mal … Kommst du oft hierher, Henry?«
    »Klar … Jeden Tag.«
    Das fand ich seltsam. Weil es so traurig hier oben war. So als würde sich die Welt niemals ändern. Bestimmt blies auch der Wind immer so heftig. Man stand hier oben, ganz verloren unter dem Himmel, und schaute auf das Treiben dort unten. Ich musste an den
Kleinen Prinzen
denken, den wir in der Schule gelesen hatten. Henry, hier oben auf seinem schwarzen Berg –
er
war der Kleine Prinz! Und die Cité Saint-Exupéry war sein Planet.
    Dort, wo er sich verloren hatte.
    »Charly, komm mal her.«
    Henry hatte sich mitten auf dem Gipfel niedergelassen, ich setzte mich neben ihn. Er nahm etwas Erde in die Hand und ließ sie durch seine Finger rieseln. Ich tat dasselbe.
    »Weißt du, Charly, Maman ist keine Drogendealerin, und sie arbeitet auch nicht für die Regierung.«
    »Ja.«
    »Die Polizisten sind heute Morgen deshalb gekommen, weil sie keine Papiere hat.«
    »Was für Papiere, Henry?«
    »Ihre französischen Papiere.«
    »So was wie einen Ausweis?«
    »Genau.«
    »Warum?«
    »Weil sie aus Mali ist.«
    Als Henry
Weil sie aus Mali ist
sagte, klang das, als würde er sagen:
Weil sie krank ist.
    »Als sie nach Frankreich gekommen war, hatte man ihr eine Aufenthaltsgenehmigung gegeben, damit sie hier leben und arbeiten konnte … Das ist ein provisorischer Ausweis, der verfällt irgendwann, und nach einiger Zeit muss man ihn erneuern lassen. Als Papa zurück nach Mali ging, hat er alle Papiere mitgenommen, sogar die Aufenthaltsgenehmigung von Maman … Ich weiß nicht, warum er das getan hat … Jedenfalls stand Maman auf einmal ohne Papiere da. Sie hat sich erst mal keine Sorgen gemacht, weil sie dachte, er würde wiederkommen … Außerdem hatte sie ja schon ihre Arbeit bei den Rolands.Maman hat lange darauf gewartet, dass Papa wiederkommt, ich glaube, sie wartet heute noch …«
    »Was?«
    »Ja … Aber er wird nie mehr zurückkommen.«
    Es war erst das zweite Mal überhaupt, dass Henry mit mir über unseren Vater sprach.
    »Vor ein paar Monaten ist Maman zum Rathaus gegangen, um ihre Papiere verlängern zu lassen. Bei den ganzen Abschiebungen der letzten Zeit hatte sie Angst,

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