Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)
meinen Schädel zerquetscht, als eine Leiter zum Hochklettern zu benutzen.
Und wenn wir dann mal zur selben Zeit ins Bett gehen, was selten genug ist, liebt Henry es, mich mit Gespenstergeschichtenzu verschrecken. Vor zwei Jahren zum Beispiel wohnte auf unserer Etage ein Mann, der einem wirklich Angst einjagen konnte. Er lebte allein, verließ seine Wohnung nie und machte nie den geringsten Lärm. Dazu muss man wissen, dass in unserem Haus auch der Mieter im dritten Stock Bescheid weiß, wenn der im vierzehnten aufs Klo geht. Unser Nachbar hingegen verhielt sich mucksmäuschenstill. Eines Nachts aber hörten wir seltsame Geräusche. Wie ein heftiges Atmen. Es klang wie der Atem eines verwundeten Tiers. Ich hatte mal einen Hund in diesem Zustand gesehen, nachdem er von einem Auto überfahren worden war.
Der Atem wurde schneller und verstummte dann plötzlich. Gleich danach hörte man einen Schlag, es war, als wenn jemand auf die Knie fallen würde.
»Henry … Henry!«
»Was denn?«
»Hörst du das?«
»Klar.«
»Was sind das für Geräusche?«
»Das ist unser Nachbar.«
»Ich weiß, aber was hat er?«
»Er heult.«
Ich lauschte ein wenig, und tatsächlich, es klang wie Schluchzer.
»Warum weint er?«
»Weil er traurig ist, dass er so ist, wie er ist.«
»Wie ist er denn?«
Es gibt Fragen, die darf man einem Idioten wie Henry niemals stellen.
»Er ist ein Vampir.«
»Wie?«
»Der Typ ist ein Vampir, Charly, ich wusste nicht, wie ich es dir sagen soll, aber es ist die Wahrheit …«
»Du redest totalen Schwachsinn, so was gibt es gar nicht.«
»Hast du unseren Nachbarn schon mal gesehen?«
»Nein.«
»Klar, du gehst ja nur tagsüber raus … Aber ich bin oft nachts unterwegs und begegne ihm manchmal.«
»Ja, und?«
»Er geht dann auf Nahrungssuche.«
»Was isst er denn?«
»Menschliche Nahrung.«
Ich hörte, wie sich Henry oben im Bett umdrehte, dann sah ich seinen Kopf an der Bettkante auftauchen.
»He, Charly …«
»Was?«
»Dieser Typ frisst Menschen.«
»Hör auf.«
Ich schloss die Augen, um so zu tun, als würde ich schlafen, und Henry streckte sich wieder im Bett aus.
Schweigen.
Dann ein Schrei.
Ein entsetzlicher Schrei. Mein Herz blieb stehen, ich richtete mich hastig auf.
»Henry!«
Mein Bruder, dieser Mistkerl, tat so, als würde er schnarchen.
»Henry … Henry …!«
»Was denn?«
»Was hat der?«
»Er leidet … Er macht sich Vorwürfe, weil er einen kleinen Jungen getötet hat.«
»Er frisst kleine Jungs?«
»Ja … ausschließlich.«
»Und warum keine großen?«
»Weil er junges Fleisch und frisches Blut liebt! Und vor allem … Schwarze!«
»Warum Schwarze?«
»Die haben festeres Fleisch.«
»Ich hab Angst, Henry!«
Henry tat wieder so, als würde er schnarchen. Ich legte mich auf die Seite, um so schnell wie möglich einzuschlafen.
Dann klopfte es mit einem Mal gegen unsere Wand. Ein dumpfes Geräusch, im Sekundentakt.
Bumm … Bumm … bumm …
Ich richtete mich kerzengerade auf.
»Henry … Hörst du das?«
»Klar.«
»Was ist das?«
»Unser Nachbar. Ich glaube, er hat Hunger.«
»Aber er kommt ja nicht durch die Wand.«
»Das ist ein Vampir, Charly, diese Typen haben übermenschliche Kräfte.«
Das Geräusch wurde immer lauter und schneller. Ich machte mir Sorgen, weil die Mauern unseres Gebäudes nicht dicker als die Tapeten sind, die man draufklebt.
»Henry, was ist da los?«
»Er kommt … Auf Wiedersehen, Charly …«
»Nein … Nein!«
Ich hatte das Gefühl, mein Herz würde auf der Stelle zerspringen. Das Geräusch war so laut, dass die Mauer erzitterte. In meiner Panik sprang ich auf, um das Licht einzuschalten. Vielleicht wollte ich es sehen, wie er die Wand durchbrach, um mich zu fressen.
Als ich das Licht einschaltete, hörte das Geräusch augenblicklich auf. Das beruhigte mich ein wenig.
Ich legte mich wieder hin.
»Charly, mach das Licht aus.«
»Nein.«
»Mach es aus, ich will schlafen.«
»Ist mir egal, ich hab zu viel Schiss.«
Henry machte Anstalten, die Leiter herunterzuklettern.
»Was hast du vor, Henry?«
»Ich mach das Licht aus.«
»Nein … Wenn du es ausmachst, sage ich Mama Bescheid.«
»Sie wird dir auch sagen, dass du es ausmachen sollst.«
»Nicht, wenn ich ihr sage, was du mir erzählt hast.«
Henry hat ziemlichen Respekt vor unserer Mutter, also hat er sich wieder hingelegt.
»Du nervst, Charly, ich kann nicht schlafen, wenn das Licht brennt.«
»Und mit einem Typ, der durch die Wand kommt, um
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