Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)
uns zu fressen, da kannst du schlafen?«
Henry kringelte sich vor Lachen.
»Aber das war doch nur Spaß!«
»Was?«
Henry klopfte gegen die Wand. Es war dasselbe Geräusch. Ich hätte ihn umbringen können.
»Du bist wirklich ein totaler Vollidiot!«
Ich setzte mich auf.
»Sei kein Spielverderber, Charly … Wo willst du hin?«
»Ich geh zu Maman und sag’s ihr.«
Ich trottete zu unserer Mutter, die noch im Wohnzimmer saß, und erzählte ihr alles brühwarm. Sie kam in unser Zimmer und stellte Henry zur Rede. Dann deckte sie mich wieder zu und streichelte mich. Mir blieb fast das Herz stehen, als sie das auch bei Henry tat, obwohl er doch ein absoluter Vollidiot war.
Es war finster, als wir wieder etwas sagten.
»Charly?«
»Was?«
»Du bist eine alte Petze.«
»Dann hör auf, mir Angst zu machen!«
»Du musst dich daran gewöhnen, das ist bei uns Familientradition.«
»Warum?«
»Als ich klein war, hat man mir viele solche Geschichten erzählt, von Zauberern im Dorf und so.«
Wenn Henry »man« sagte, meinte er damit unseren Vater. Meine Mutter würde uns niemals Horrorgeschichten erzählen.
»Henry … Glaubst du, er kommt eines Tages wieder … Papa?«
»Nenn ihn nicht Papa!«
»Warum?«
»Weil das diejenigen sagen, die einen Vater haben.«
»Wie soll ich ihn denn dann nennen?«
»Nenn ihn gar nicht!«
»Na schön, also: Glaubst du, er kommt eines Tages wieder?«
»Halt’s Maul!«
Henry drehte sich um, und ich ließ ihn in Ruhe.
Vielleicht dreißig Sekunden später sagte er noch:
»Schlaf gut, Charly.«
Das bedeutete, dass es ihm schlechtging und er nicht wollte, dass es mir deswegen auch so ging.
Es gibt nichts Bescheuerteres, als anderen dabei zuzusehen, wie sie um ein Spielfeld laufen. Außerdem musste ich die ganze Zeit an Mélanie denken und an die Tatsache, dass sie »Hallo« zu mir gesagt hatte. Ich war ganz schön durch den Wind. So als wäre ich in zwei Hälften geteilt. Auf der einen Seite war die Last der Geschichte mit meinerMutter, und auf der anderen der prickelnde Schauer, den Mélanie mir verursachte. Schon komisch, dass man gleichzeitig so unterschiedliche Empfindungen haben kann. Dass man zugleich traurig und glücklich sein kann. Was ich für Mélanie empfand, verdrängte den Gedanken an all das andere. Und ich wollte mir das Prickeln bewahren.
Ich wusste, dass es mich stark machte.
Unwillkürlich stand ich auf. Alles zog mich zu dem Viertel mit den Einfamilienhäusern, in dem Mélanie wohnte. Nur bis zu ihrem Haus wollte ich laufen. Ich wusste, dass ich niemals den Mut haben würde, bei ihr zu klingeln. Trotzdem fand ich die Idee gut, dorthin zu gehen.
Zumindest besser, als meinen Kumpels beim Galoppieren um das Spielfeld zuzusehen.
Sie hatten noch anderthalb Stunden vor sich.
Fünfzehntes Kapitel
16 Uhr 50
Was das Beste an mir ist … Was das Beste an mir ist … Was das Beste an mir ist …
Ich fand nichts. Ganz schön schwer als Aufsatzthema. Dabei war das Schreiben von Aufsätzen mein Spezialgebiet. Ich sage nur: Achtzehn Punkte für
Mein späteres Leben stelle ich mir so vor
. Man darf auf keinen Fall in Panik geraten. Wenn man anfängt, auf die Uhr zu schauen, sobald man das Thema mitgeteilt bekommen hat, ist es schon aus. Außerdem soll das Thema nur einen Anstoß geben. Wie ein Trampolin. Was das Beste an mir ist, das steckt nicht unbedingt in mir drin. Karims und Yéyés rechter Fuß ist nicht notwendigerweise das Beste an ihnen. Und wenn man sie so viele Tore schießen sieht, sagt man sich nicht, ihr Fuß hat Zauberkräfte oder so. Man denkt sich, dass sie voller Spielwut und Energie sind. Sie geben ihr Bestes, wenn sie draußen sind, wenn sie spielen und Leute ihnen zuschauen und sie anfeuern. Doch das Beste an Karim und Yéyé, das ist ihre Großzügigkeit. Und ihre Lebenslust.
Das Beste an mir
ist vielleicht zugleich das Schlimmste, was es gibt. Wie ein Herz, das wegen unterschiedlicherDinge in Aufregung gerät. Ich liebe es, wenn mein Herz wegen Mélanie schneller schlägt. Ich hasse es, dass es dasselbe tut, wenn meine Mutter von Polizisten abgeführt wird und mein Lächeln nicht erwidert. Nein, mein Herz ist nicht das Beste an mir. Es tut nur, was mein Kopf ihm sagt. Und mein Kopf das, was meine Augen ihm sagen. Oder sehen meine Augen das, was mein Kopf ihnen sagt? Mann, ich werde noch verrückt! Ich habe einfach zu viel Phantasie.
Das ist es, genau.
Das Beste an mir
ist meine Phantasie.
Das Schlimmste an
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