Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)
ihn habe ich noch mehr Schiss.
Ich legte mich direkt auf den Bauch, um so schnell wie möglich einzuschlafen. Doch ich war absolut nicht müde.
Ich lauschte der Stille.
Schritte auf den Treppen, der Müllschlucker, der Luftzug.
Nach einer Weile hörte ich wieder die Atemgeräusche. Wie in der Nacht zuvor. Ich richtete mich auf und hielt die Luft an, um besser horchen zu können. Die Geräusche wurden immer lauter. Ich wünschte mir, Henry wäre da gewesen. Er hätte mich zwar nicht beruhigt, aber mir war es lieber, mich in Anwesenheit von jemand anderemfressen zu lassen. Das Schnaufen war nun von Pausen durchsetzt. Es klang wirklich wie ein Tier. Wie ein Bär. Und dann ertönte ein Schrei. Den kannte ich ja auch schon vom letzten Mal. Diesmal war er noch lauter. Wie von der Tarantel gestochen sprang ich aus dem Bett und lief zu meiner Mutter. Sie schlief, ließ sich aber problemlos wecken. Ich weiß nicht, ob ich schon mal so eine Panik hatte. Meine Mutter glaubte, ich hätte einen Alptraum gehabt, woraufhin ich losplärrte, dass unser Nachbar ein Vampir sei und die Wohnung nur nachts verlasse und durch die Wand gehen könne und kleine schwarze Jungs fresse.
Meine Mutter richtete sich auf und sagte, ich wäre ja wohl verrückt geworden, ich sollte mich mal wieder beruhigen.
Ich war einverstanden, aber nur unter der Bedingung, dass ich bei ihr schlafen durfte. Das funktionierte. Ich bat sie, in mein Zimmer rüberzugehen und sich selbst von dem Horror zu überzeugen.
Nach zwei Minuten kam sie zurück und legte sich neben mich.
»Maman, hast du es gehört?«
»Ja.«
»Und?«
»Na ja, das ist jemand, der weint, und der leidet.«
»Siehst du!«
»Das bedeutet doch nicht, dass er ein Vampir ist, so etwas gibt es nicht, Charly.«
»Warum weint er denn?«
»Ich weiß es nicht.«
»Aber warum weint er nur nachts?«
»Vielleicht ist er zu dem Zeitpunkt am unglücklichsten.«
»Und warum ist er …«
»Charly, schlaf jetzt.«
Ich gab nach, aber nur, weil ich nicht wieder in mein Bett wollte.
Am nächsten Tag, nach dem Abendessen, nahm meine Mutter eine Flasche Wein aus dem Schrank und zog sich ihre Jacke an.
»Wo gehst du hin, Maman?«
»Zu unserem Nachbarn.«
»Was … Zu dem Vampir?!«
»Das ist kein Vampir.«
»Warum gehst du zu ihm?«
»Um ihm eine Flasche Wein vorbeizubringen und ihn hier im Wohnturm willkommen zu heißen. Vielleicht ist er allein … Du wirst sehen, dass er ganz normal ist!«
»Warum werde
ich
das sehen?«
»Weil du mit mir kommst!«
»Oh, Maman,
ich flehe dich an
!
«
»Hör auf mit deinem
Ich flehe dich an …
Du kommst mit!«
Wenn meine Mutter diesen Blick hat, wenn sie einen so anstarrt, dann hat es keinen Sinn, zu diskutieren. Mein
Ich flehe dich an
funktioniert übrigens immer schlechter, ich muss mir allmählich etwas Neues ausdenken.
Wir verließen unsere Wohnung und marschierten ans andere Ende des Flurs. Es war kein großartiger Ausflug. Meine Mutter klopfte, und es antwortete uns ein Geräusch, als ob ein Stuhl gerückt würde.
Ich starrte auf das Schloss. In bangem Entsetzen erwartete ich, dass ER gleich hindurchgeschlüpft käme, um mich zu verschlingen.
Meine Mutter klopfte noch einmal.
»Ja?«
Der
Vampir
! Er war bereits hinter der Tür, wir hatten ihn nicht kommen hören. Dieser Typ hatte wirklich magische Kräfte.
»Guten Abend, Monsieur, ich bin Madame Joséphine Traoré, und das hier ist mein Sohn Charly … Wir wollten Sie herzlich willkommen heißen hier im Wohnturm. Und auf unserer Etage … Wir haben Ihnen eine Flasche Wein mitgebracht … Ich glaube, es ist ein guter.«
»Ach so …«
Seine Stimme war trauriger als das Eingangsportal unserer Schule. Außerdem war er nicht direkt gesprächig, meine Mutter musste ganz schön nachhelfen.
»Möchten Sie ein Glas mit uns trinken, vielleicht sogar bei uns drüben?«
»Sehr nett von Ihnen, Madame Traoré, aber ich kann nicht … Nein … Wirklich, ich kann heute Abend nicht … Tut mir sehr leid …«
Ich zerrte meine Mutter am Ärmel.
»Komm, Maman, lass uns gehen.«
Meine Mutter stellte die Flasche vor der Tür ab und sagte:
»Also dann auf ein andermal, hoffe ich, schönen Abend, Monsieur.«
Wir gingen wieder zurück, und erst in dem Augenblick fing mein Herz wieder zu schlagen an, und ich konnte atmen.
Als ich am nächsten Morgen aus der Wohnung trat, um zur Schule zu gehen, stieß ich gegen etwas auf unserem Fußabtreter.
Ein zusammengerolltes Papier, in dem sich eine zierliche
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