Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)
nachsitzen müssen, verhalten wir uns einigermaßen ruhig, aber in unseren Gedanken sind wir woanders und finden, dass Englisch sterbenslangweilig ist.
»Und, Charly, hast du deinen Bruder gefunden?«
»Ja, in Saint-Ex.«
»Das ist aber gruselig dort.«
»Ja, genau.«
»Und?«
»Nichts.«
Ich hatte keine Lust, ihnen zu erzählen, was mein Bruder gesagt hatte. Noch hatte ich keine Gelegenheit gehabt, selbst darüber nachzudenken.
Ich empfand so etwas wie Scham. Und Furcht. So wie Henry, wenn er auf Drogen war. In mir drin spürte ich eine Kugel. Nicht im Bauch, sondern weiter oben, im Hals. Eine Kugel, die sich in Tränen Luft machen würde,in Erbrochenem oder in einem Schrei. Und ich wollte nicht, dass es vor meinen Freunden geschah. Ich wollte lieber allein sein. Oder bei meiner Mutter.
»Henry weiß auch nicht, was passiert sein könnte.«
Inzwischen waren wir am Stadion angelangt, ich folgte den anderen in die Umkleidekabine. Das Training war zurzeit unheimlich wichtig, weil viele Spiele anstanden. Die Meisterschaft. Und die Pokalspiele. Unsere Mannschaft ist ziemlich gut. Wir sind unter den ersten fünf. Vor allem wegen Karim und Yéyé, die bei jedem Spiel Tore schießen. Nicolas Gasser ist Abwehrspieler, der ist so ein Koloss, dass kaum einer an ihm vorbeikommt. Er ist kein Muskelprotz, aber eben ein nervöser Typ, der nicht mit sich spaßen lässt. Brice ist auch in der Abwehr. Aber um ehrlich zu sein, er spielt nicht oft. Der Trainer hat ihn dort eingesetzt, weil er ein bisschen schwerfällig ist und weil er unsere Angreifer in Verlegenheit bringen könnte. Die meiste Zeit verbringt er jedoch auf der Bank. Was ich sehr großherzig an Brice finde, ist, dass er uns nach dem Spiel immer gratuliert und begeistert von den Aktionen und den Toren redet, die uns gelungen sind.
Karim hatte sich als Erster umgezogen. Er setzte sich zu mir auf die Bank.
»Willst du wirklich nicht, dass wir Lorofi fragen, ob er dich spielen lässt?«
»Nein, das wird er sowieso nie erlauben … Außerdem habe ich gar keine große Lust.«
»Und was machst du dann jetzt?«
»Ich gucke euch zu, und später dreh ich vielleicht noch eine Runde.«
»Gehst du wieder zu dir nach Hause?«
»Ich glaube nicht … Ich warte lieber noch ein bisschen.«
»Da hast du recht. Wenn du willst, kannst du bei mir im Keller schlafen.«
»Ist gut.«
»Ich könnte dir Gesellschaft leisten.«
»Danke.«
Der Keller bei Karim ist ziemlich geräumig im Vergleich zu anderen. Manchmal gehen wir dorthin, einfach so, um zu quatschen. Es gibt sogar eine Matratze, die Karims Bruder auf dem Müll gefunden hat. Die verleiht er oft an Riton Maroni, einen Typ aus unserem Wohnturm, der fünf Jahre älter ist als wir und den wir schwer in Ordnung finden. Riton muss oft außer Haus schlafen, weil seine Mutter, mit der er allein zusammenlebt, permanent betrunken ist, dann niemanden erkennt und nicht einmal dem eigenen Sohn die Tür öffnet.
Riton hat es sich im Keller ziemlich gemütlich gemacht. Er hat zwei, drei Filmplakate aufgehängt, und er hat eine kleine Lampe aufgestellt, die zwar keinen Schirm hat, aber schönes Licht spendet.
Yéyé hat sich zu Karim und mir gesellt und seine übliche Stepp-Nummer auf den Fliesen abgezogen. Das macht er immer. Sobald er Stollen unter den Füßen hatund auf Fliesen steht, fängt er an zu steppen. Der Typ ist echt eine Nervensäge.
Lorofi stand bereits mit seiner Trillerpfeife zwischen den Lippen auf dem Platz. Dieser Mann hat, glaube ich, einen Ball dort, wo andere Leute ein Gehirn haben.
Ich setzte mich auf die Tribüne, während meine Kumpels zu den anderen Spielern auf dem Rasen liefen.
Das Training beginnt immer mit ein paar Runden um den Platz, zum Warmwerden. Danach wird an der Technik gearbeitet. Es folgen Pässe mit einfachem Ballkontakt. Flanken und Ecken. Freistöße. Strafstöße. Zum Schluss gibt’s ein Match unter uns.
Während ich von der Tribüne aus dem Geschehen auf dem Platz folgte, musste ich an Henry denken. Ich wusste nicht, was ich von alldem halten sollte, was er mir erzählt hatte. Vielleicht wollte ich auch nicht darüber nachdenken. Ich spürte nur etwas. Ein Frösteln, das bis an mein Herz vordrang.
Das erste Mal, als Henry mit mir über unseren Vater gesprochen hatte, lag etwa ein Jahr zurück.
Mein Bruder und ich teilen uns ein Zimmer, wir haben Stockbetten. Er schläft oben, ich unten. Was blöd ist, weil Henry oft mitten in der Nacht nach Hause kommt und lieber
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