Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)
mir
– das ist genauso meine Phantasie.
Ich fühlte mich glücklich, als ich zu Mélanie unterwegs war. Und ich schämte mich ein wenig dafür, denn eigentlich hätte ich traurig sein müssen; aber es ging mir nun mal gut, und ich wollte diesen Zustand genießen, so als wüsste ich, dass er nicht von Dauer war.
Ich lief ziemlich schnell und durchquerte sogar das Einkaufszentrum, das ich heute Morgen gemieden hatte. Ich wollte rechtzeitig da sein, was totaler Quatsch war, weil Mélanie ja gar nicht auf mich wartete. Niemand wartete auf mich.
Aber ich kam auch allein gut zurecht.
Ich frage mich oft, ob Mélanie schon mal an mich gedacht hat. Einfach so, meine ich, ohne dass man sich sieht. Wenn sie bei sich zu Hause ist, in ihrem Zimmer, odervor dem Einschlafen. Und wenn ja, was sieht sie dann wohl, wenn sie an mich denkt. Es muss ja ein Bild von mir geben, das sich ihr als Erstes aufdrängt. Wir haben alle eine Rangfolge von Bildern im Kopf. Also, wenn ich an sie denke, drängt sich mir immer gleich ein ganz bestimmtes Bild auf. Ich sehe sie vor der Schule, sie trägt ihren Rucksack auf dem Rücken, hat ihre Jeansjacke an und natürlich auch das Tuch um den Hals gebunden. Sie geht sehr aufrecht, mit leicht erhobenem Kopf – Mann, was für eine Schönheit! Ich habe eine Million Bilder von Mélanie in meinem Kopf, und doch schiebt sich dieses eine immer in den Vordergrund.
Meine Mutter sehe ich von hinten, zumindest zu drei Vierteln. Sie steht in der Küche, vor dem Gasherd, und bereitet das Essen zu. Ich sehe ihren Nacken und ihre Wange, beides ganz weich. Zu dem Bild, das ich von meiner Mutter habe, gehört auch Musik. Vielleicht, weil ich sie besser kenne. Sie singt. Vielmehr trällert sie eine Melodie.
Bei meinem Bruder ist es anders. Das Bild, das ich von ihm im Kopf habe, ist eher ein Foto. Es zeigt ihn bei uns im Wohnzimmer. Er muss fünf Jahre alt sein, hat nur eine Badehose an und grinst wie bescheuert. Das Foto ist leicht unscharf, und die Farben wirken ein wenig ausgebleicht. Ich weiß nicht, wer es aufgenommen hat, mein Vater oder meine Mutter. Henry sieht glücklich aus auf diesem Foto, dennoch macht es mich unheimlich traurig.
Ich frage mich, welches Bild Mélanie von mir hat. Ichwüsste zu gern, ob einer von den Augenblicken darauf festgehalten ist, in denen ich auf dem Schulhof mit den anderen Blödsinn mache. Oder ob sie mich in Shorts beim Sportunterricht vor sich sieht. Vielleicht sieht sie mich ja auch, wie ich morgens zur Schule komme. Ich schwör’s Ihnen, ich lege immer einen super Auftritt hin, wenn ich auf dem Schulhof einlaufe. Ich spiele den total übermüdeten Typ, der in der Nacht unglaubliche Dinge erlebt hat. Einmal kam ich sogar angehinkt. Ich weiß nicht, warum ich das getan habe, ich habe es erst dreihundert Meter vor dem Schultor beschlossen. Ich fand, dass es ganz schön Eindruck machte. Manchmal würde ich mir am liebsten selbst eine in die Fresse hauen, nur damit ich ein paar Narben und etwas total Abgründiges zu erzählen hätte.
Was ich noch nicht zu Ende erzählt habe, ist die Geschichte vom Vampir. Es gibt nämlich ein Ende, und zwar ein schreckliches. Auch dabei geht es um Leute, die an andere Leute denken.
Nachdem Henry mir mit unserem Nachbarn Angst eingejagt hatte, lief ich den ganzen Tag wie ein aufgeschrecktes Kaninchen durch die Gegend. Selbst wenn ich ihm tagsüber nicht begegnen konnte, würde es ja doch irgendwann einmal Nacht werden, und dann lief ich Gefahr, mich von ihm fressen zu lassen.
Abends, während des Essens, quengelte ich, dass ich bei meiner Mutter schlafen wollte. Doch sie wollte davonnichts wissen, sie findet, ich bin zu alt dafür und so. Selbst mein bombensicherer Trick, mein
Ich flehe dich an!
funktionierte nicht. Ich wollte ihr nicht sagen, weshalb ich Angst hatte. Ich wusste genau, was sie mir sagen würde: Das wären doch nur so Geschichten, niemand würde kleine schwarze Jungs wie mich fressen. Und es würde ihr gelingen, mich für zwei Minuten zu beruhigen, aber kurz vorm Einschlafen wäre die Angst wieder da. Jedenfalls ließ ich mir an jenem Abend wirklich lange Zeit. Zwei Stunden zum Zähneputzen. Fünf, um den Pyjama anzuziehen. Meine Mutter drehte fast durch.
Da sie spürte, dass mit mir etwas nicht stimmte, blieb sie ein wenig länger als sonst an meinem Bett sitzen. Henry war nicht da. Und als meine Mutter schließlich das Licht ausschaltete, kam ich mir ganz schön einsam vor. Henry macht mir immer Angst, aber ohne
Weitere Kostenlose Bücher