Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)
bemerkte, dass es bereits dunkel war. So überrascht wie ein paar Stunden zuvor, als ich mit Freddy Tanquin aus dem Einkaufszentrum gerannt bin und auf einmal die Sonne schien.
Die Straßen ähnelten sich irgendwie alle, besonders die, die nach rechts abzweigten. Nach einer Weile beschloss ich, in die nächstbeste einzubiegen, ohne zu wissen, wohin ich eigentlich ging. Die Häuser in dieser Gegend waren wirklich schön, hatten zugleich aber auch etwas Trauriges an sich. In jedem Fall waren sie zehn Mal größer als die Einfamilienhäuser bei uns im Viertel.
Es gibt nichts Langweiligeres, als den Weg zu beschreiben, den man zurücklegt, um irgendwohin zu gelangen. In Filmen wird so was nie gezeigt. Genauso wenig in Büchern. Und bei Kaspar Hauser muss man sich auch nicht die ganze Geschichte im Wald geben, bis er schließlich in die Stadt kommt. Um es kurz zu machen: Es war gefühlte zwei Wochen lang dunkel, als ich endlich das Haus der Rolands entdeckte. Als ich davor stand, hatte ich keinen Zweifel mehr, an der richtigen Adresse zu sein. Ihr Garten ist der schönste weit und breit. Ein echtes Paradies, nur ein Springbrunnen in der Mitte fehlt, mit Statuen, die Wasser spucken wie in dem Park auf der Place des Vosges.
Ich zögerte kurz, bevor ich läutete. Vielleicht hatten sie sich schon schlafen gelegt. Aber umkehren wollte ich nun auch nicht.
Ich war erleichtert, als drinnen die Lichter angingen.
Achtzehntes Kapitel
19 Uhr 20
Es war Monsieur Roland, der mir öffnete.
Er erkannte mich nicht gleich, was mir einen Stich versetzte.
Ich musste ihm erst sagen:
»Guten Abend, Monsieur Roland … Ich bin’s, Charly … Der Sohn von Joséphine.«
Das war ihm dann ganz schön unangenehm. Er hat sich siebenhundert Mal entschuldigt. Das wäre doch nicht so schlimm, meinte ich, in seinem Alter würde ich bestimmt auch niemanden mehr erkennen.
Er bat mich herein und führte mich ins Wohnzimmer. Madame Roland saß auf dem Sofa und schaute fern. Monsieur Roland brüllte seiner Frau zu, dass sie Besuch hätten.
»Der kleine Charly ist hier … Der Sohn von Joséphine!«
Bestimmt hat er ihr das sicherheitshalber zugerufen, damit sie mich auch ja erkannte.
Madame Roland freute sich wie eine Schneekönigin, mich zu sehen, und Monsieur Roland genauso. Sie hätten die beiden sehen sollen, sie waren ganz aufgeregt, als wäreich gerade aus dem Krieg zurückgekehrt. So wie man es immer im Film sieht.
Sie fragten mich, was ich trinken wollte, und ich antwortete »nichts«, weil ich weiß, dass man das sagen muss, um nicht als Bauernlümmel zu gelten. Aber Monsieur Roland ließ nicht locker, und so bat ich ihn schließlich um ein Glas Wasser, damit er Ruhe gab. Dazu musste er gar nicht in die Küche gehen, weil auf dem niedrigen Tisch ein Tablett mit einer Karaffe und sauberen Gläsern stand. Ich fand es cool, Wasser immer griffbereit zu haben. Das hatte Stil. Monsieur Roland schenkte erst mir ein riesiges Glas ein, dann seiner Frau. Ich sollte doch Platz nehmen, aber ich wusste nicht wo, denn bei den Rolands stehen zweitausend Sessel herum. Er selbst setzte sich neben seine Frau, also entschied ich mich für den Sessel gegenüber. Madame Roland stellte den Fernseher mit der Fernbedienung auf stumm, und ich dachte mir, dass sie sich ziemlich gut mit der Fernbedienung auszukennen schien, wenn sie den Knopf, mit dem man leise stellt, so schnell fand. Ich brauche stundenlang, um ihn zu finden. Jedenfalls waren auf einmal alle still, man kam sich vor wie im Wartezimmer. Monsieur und Madame schauten mich lächelnd an, was mir unangenehm war, es ist schließlich nicht immer leicht, sich auf Anhieb wohl zu fühlen.
»Geht es Ihnen gut, Madame Roland?«
»O ja, Charly, danke der Nachfrage.«
»Das freut mich!«
Sie schauten mich weiterhin an und lächelten und so.
»Und Ihnen, Monsieur Roland, geht es Ihnen auch gut?«
»Sehr gut … Und dir, Charly?«
»Geht schon so … Das Leben ist nicht immer ein Fest …«
»Und die Schule?«
»In der Schule läuft’s ganz gut … Ich habe achtzehn Punkte für meinen Aufsatz bekommen.«
»Gratuliere!«
»Schreibst du gern Aufsätze?«
»Das mache ich am allerliebsten in der Schule … Ich könnte Ihnen über ungefähr jedes Thema mindestens zehn Seiten schreiben!«
»Das ist ja toll!«
»Und in Mathematik?«
»Also, in Mathe bin ich, ehrlich gesagt, keine große Leuchte … Ich finde, dass die Sachen, die wir im Unterricht besprechen, zum Beispiel Brüche und so, gar
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