Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)
meine Abwesenheit aufgefallen war.
Ich hatte Lust, sie zu fragen, ob sie mich in der Kantine manchmal beobachtete. Ob sie tagsüber an mich dachte. Und was für ein Bild ihr dabei zuerst vor Augen kam.
»Ich hatte ein Problem heute Morgen, ich konnte nicht zur Schule kommen.«
Mélanie schaute zu ihrem Großvater hinüber, der mit einer Gießkanne aus dem Haus trat.
»Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes.«
Ich hatte keine Lust, ihr zu erzählen, was mir passiert war. In meinem Herzen geschahen gerade so viele Dinge. Und ich wollte nicht, dass sie sich mit all dem anderen vermischten. Alles sollte an seinem Platz bleiben.
»Nein, es ist nichts weiter.«
»Sollen wir eine kleine Runde drehen?«
»Ja, gern, wenn du möchtest.«
Wir liefen ein Stück die Straße entlang. Die schönste Runde meines Lebens war das. Vor allem, weil wir sehr langsam gingen. Ich stellte fest, dass ich Mélanie noch nie so nahe gekommen war – im Stehen. Die wenigen Male, die wir miteinander geredet hatten, saßen wir. Mélanie war so groß wie ich, vielleicht sogar ein oder zwei Zentimeter größer. Die meisten Jungs finden das doof. Ich finde es besser so.
»In zwei Wochen feiere ich meinen Geburtstag … Am übernächsten Samstag … Du kannst kommen, wenn du magst.«
»Okay, dann komme ich …«
Eine Frau lief uns entgegen, die offenbar gerade nach Hause zurückkehrte.
»Guten Tag, Mélanie.«
»Guten Tag, Madame Levanter.«
Ich sagte ebenfalls guten Tag.
Und Mélanie:
»Charly … Madame Levanter.«
Beinahe wäre ich in Ohnmacht gefallen. Sie hatte meinen Namen gesagt. Und noch dazu den richtigen. Diesen Augenblick zusammen mit Mélanie verbringen zu dürfen gab mir das Gefühl, an ihrem Leben teilzuhaben. Er hätte ewig dauern können.
Wir liefen bis zu einem kleinen Platz, den ich nicht kannte. Es war nicht die Place des Vosges, aber verglichen mit all den anderen in der Cité war er trotzdem sehr schön.
Wir setzten uns auf eine Bank.
Da ich einerseits nicht wollte, dass der Augenblick zu Ende war, ich andererseits jedoch ein Problem damit habe, für immer in der Gegenwart zu verharren, musste ich sie fragen:
»Darfst du raus, wann und wie lange du willst?«
»Na ja, nicht wirklich, vor allem, wenn wir am nächsten Tag Schule haben.«
»Aber ein bisschen kannst du noch bleiben?«
»Ein bisschen schon, aber dann muss ich wieder nach Hause.«
Das tat mir weh. Und ich hasste mich dafür, dass ich gefragt hatte. Immer muss ich diese bescheuerten Fragen stellen.
»Und du, lässt deine Mutter dich raus?«
»Na ja, geht so … Aber auch nicht allzu oft.«
Es war schrecklich. Weil ich doch wusste, dass ich nicht nach Hause zurückkehren konnte. Bestimmt mussteich die Nacht irgendwo anders verbringen. Vielleicht die ganze Woche. Meine ganze Kindheit.
Außerdem hatte ich gelogen, meine Mutter wollte nicht, dass ich nach der Schule auch nur eine einzige Minute irgendwo herumhing. Sie hatte meinen Tagesablauf immer fest im Griff.
Da Mélanie nach Hause musste und ich es hasse, mit jemandem zu sprechen, wenn ich weiß, dass man sich gleich von ihm verabschieden muss, versuchte ich cool zu sein. Auch um die bescheuerten Fragen wieder auszubügeln, die ich zuvor gestellt hatte:
»Sollen wir gehen?«
»Okay.«
Wir standen auf. Ich war ganz und gar nicht glücklich, denn ich wusste, dass sie in ein paar Minuten nicht mehr da sein würde. Ich würde allein durch diese Straße gehen und wahrscheinlich allein zu diesem Platz zurückkehren.
Sie hatte mich zwar zu ihrem Fest eingeladen, aber das kam mir tausend Jahre weit weg vor. Ich wollte mich mit vollem Herzen von ihr verabschieden – voll mit neuen Bildern und den Dingen, die wir einander erzählt hatten.
Nur noch wenige Meter trennten uns von ihrem Haus. Deshalb dachte ich an meine Mutter. Um traurig zu sein. Um Mut zu fassen. Kummer macht einen stark. Sonst wäre ich an diesem Nachmittag niemals zu Mélanie gegangen.
»Hast du einen Freund?«
Sie lächelte. So als hätte sie gewusst, dass ich sie das fragen würde.
»Wie meinst du das, einen Freund?«
»Einen festen Freund.«
»Nein.«
»Es gibt niemanden, der dir gefällt?«
»Warum fragst du mich das?«
»Nur so.«
»Ich habe keine Lust, darauf zu antworten.«
Ich sagte nichts mehr, weil das eh schon eine Frage zu viel gewesen war. Und weil mir ihre Antwort gefallen hatte. Es war weder ein Nein noch ein Ja.
»Und du?«
»Was?«
»Hast du eine feste Freundin?«
»Nein.«
»Aber es gibt jemanden,
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