Ringwelt 08: Der kälteste Ort
Jahrhunderts gewann die Bewegung gegen die Todesstrafe immer mehr an Boden. Ihre Anhänger hatten ein Ziel vor Augen: Sie wollten die Hinrichtung durch eine Gefängnisstrafe ersetzen. Sie verfochten den Standpunkt, daß es einem Menschen keine Lehre erteile, wenn man ihn für sein Verbrechen hinrichte. Die Todesstrafe diene anderen auch nicht zur Abschreckung, wenn sie zu der gleichen Tat entschlossen seien. Der Tod sei unwiderruflich, argumentierten sie, während man einen zu Unrecht Verurteilten wieder auf freien Fuß setzen könne, wenn seine Unschuld sich nachträglich herausstelle. Die Todesstrafe erfülle keinen guten Zweck, sagten sie, und befriedige nur das Rachebedürfnis der Gesellschaft. Und Rache sei kein legitimer Standpunkt für eine aufgeklärte Gesellschaft.
Vielleicht hatten die Leute damals recht.
Im Jahre 1940 veröffentlichten Karl Landsteiner und Alexander S. Wiener ihre Forschungsergebnisse über den Rhesusfaktor im menschlichen Blut.
Gegen Mitte des Jahrhunderts bekamen die meisten verurteilten Mörder eine lebenslange Freiheitsstrafe oder eine Strafe auf Zeit. Viele wurden später wieder in die Gesellschaft entlassen, manche ›rehabilitiert‹, manche nicht. In einigen Staaten wurde sogar für Entführung die Todesstrafe ausgesprochen; doch man konnte nur wenige Geschworene dazu überreden, für diese Strafe zu plädieren. Das gleiche galt für Angeklagte, denen man einen Mord zur Last legte. Wenn zum Beispiel ein Mann in Kanada wegen Einbruchs, in Kalifornien wegen Mordes gesucht wurde, wehrte er sich gegen eine Auslieferung nach Kanada, weil er wahrscheinlich in Kalifornien eine mildere Strafe zu erwarten hatte als in Kanada. Viele Staaten hatten die Todesstrafe abgeschafft.
Die Besserung des Straffälligen war das Hauptanliegen der Wissenschaft und besonders der Psychologie.
Doch …
Damals gab es schon auf der ganzen Welt Blutbanken. Frauen und Männer mit Nierenleiden bewahrte man bereits vor dem Tode, indem man ihnen die Niere ihrer Schwester oder ihres Bruders einpflanzte, falls sie als eineiige Zwillinge auf die Welt gekommen waren. Das traf allerdings nur in seltenen Fällen zu. Ein Arzt in Paris verwendete gespendete Nieren von nahen Verwandten und bestimmte schon im Voraus, wie groß die Verträglichkeit zwischen dem Empfänger- und dem Spenderorgan sein würde, um die Überlebenschancen auszurechnen.
Auch Verpflanzungen der Augenhornhaut waren an der Tagesordnung. Doch ein Augenspender konnte bis zu seinem Tode warten, ehe er einen anderen Menschen vor dem Schicksal der Blindheit rettete. Menschliche Knochengewebe konnten jederzeit übertragen werden, wenn man sie vorher von Blutgefäßen und Mark säuberte.
So war die Lage um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts.
Im letzten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts konnte man jedes lebende menschliche Organ für eine ausreichend lange Zeit lagern. Transplantationen waren zur Routine geworden. Das wurde besonders durch das Skalpell mit der hundertprozentigen Genauigkeit ermöglicht – durch den Laser. Sterbende vermachten immer häufiger ihren Körper der Organbank. Selbst die Lobbyisten der Bestattungsunternehmen waren dagegen machtlos. Doch die Geschenke der Toten erfüllten oft nicht mehr ihren Zweck.
2014 erließ Vermont als erster Staat Gesetze über Spenden an die Organbank. Vermont hatte nie die Todesstrafe abgeschafft. Fortan wußte jeder zum Tode Verurteilte, daß er durch seinen Tod das Leben anderer retten würde. Jetzt war die Ansicht entkräftet, daß die Hinrichtung keinen sinnvollen Zweck erfüllte. Zumindest in Vermont.
Später erließ Kalifornien ein ähnliches Gesetz. Dann Washington, Georgia, Pakistan, England, Schweiz, Frankreich.
Das Gehband bewegte sich mit einer Geschwindigkeit von sechzehn Kilometern in der Stunde. Lewis Knowles hing an den Gleitketten und sah ein Fenstersims unter sich. Das Sims war ungefähr sechzig Zentimeter breit und befand sich einen Meter zwanzig unterhalb seines großen Zehs. Er ließ sich fallen.
Beim Aufprall ging er in die Knie, doch er stürzte nicht ab. Nach einer langen Sekunde des Balancierens holte Lew tief Luft.
Er wußte nicht, auf welchem Gebäude er sich befand; aber es war auf keinen Fall verlassen. Trotz der Feierabendstunde um 21 Uhr waren alle Fenster erleuchtet. Er versuchte, sich in einen toten Winkel zu drücken, während er durch die Scheibe spähte.
Das Fenster gehörte zu einem Büro. Der Raum war leer.
Er brauchte etwas, das er sich um die Hand
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