Ringwelt 08: Der kälteste Ort
Garner träumte versonnen vor sich hin, während sein Blick über den starren Himmel glitt. Auf die Einladung der Regierung hin hatte er zum ersten Mal eine Blasenwelt besucht und damit einen Urlaub von seiner Tätigkeit bei den Vereinten Nationen mit einer vollkommen neuen Erfahrung verbunden – eine seltene Gelegenheit für einen Mann, der siebzehn Jahrzehnte alt ist. Er fand es angenehm verrückt, zu einem Himmel aus verschmolzenem Gestein und importiertem Mutterboden aufzublicken.
»Schmuggeln ist absolut nichts Unmoralisches«, sagte Lit Shaeffer.
Die Erdoberfläche über ihm war mit Hotels überzogen, als wäre die Blasenwelt im Begriff, sich zur Stadt zu entwickeln. Garner wußte, daß dem nicht so war. Diese Hotels und die verstreuten Hotels in der anderen Blasenwelt dienten dem gelegentlichen Bedürfnis der Belter nach einer irdischen Umgebung. Belter benötigen keine Häuser. Das Heim eines Belters ist das Innere seines Druckanzuges.
Garner wandte sich wieder seinem Gast zu. »Sie meinen, Schmuggeln ist dasselbe wie Taschendiebstahl auf der Erde?«
»Genau das meine ich nicht«, erklärte Shaeffer. Der Belter zog etwas Flaches, Schwarzes aus der Tasche seines Overalls und legte es auf den Tisch. »Ich werde das gleich abspielen. Garner, Taschendiebstahl ist auf der Erde nichts Ungesetzliches. Das kann es auch gar nicht sein, so zusammengedrängt, wie Sie auf der Erde leben. Sie wären außerstande, ein Gesetz gegen den Taschendiebstahl zu erzwingen. Im Belt ist der Schmuggel ungesetzlich, aber er ist nicht unmoralisch. Es ist das gleiche, als würde ein Flatlander vergessen, Geld in die Parkuhr zu stecken. Die Handlung zieht nicht den Verlust der Selbstachtung nach sich. Wenn man erwischt wird, bezahlt man das Bußgeld und vergißt das Ganze.«
»Oh.«
»Wenn ein Mensch seinen Gewinn durch das Gebiet von Ceres befördern will, ist das seine Sache. Es kostet ihn runde 30 Prozent. Wenn er glaubt, sich an den Goldhäuten vorbeimogeln zu können, ist das auch seine Sache. Aber wenn wir ihn erwischen, konfiszieren wir seine Ladung, und er wird von allen ausgelacht. Kein Mensch hat Mitleid mit einem glücklosen Schmuggler.«
»Ist es das, was Müller versucht hat?«
»Ja. Er hatte eine kostbare Fracht geladen, zwanzig Kilogramm reine magnetische Nordpole. Die Versuchung war zu groß für ihn. Er versuchte sich an uns vorbeizuschleichen, und wir haben ihn mit den Radargeräten aufgespürt. Dann hat er eine Dummheit begangen. Er hat versucht, sich um ein Loch herumzuschlagen. Er muß sich auf den Weg zum Mond befunden haben, als wir ihn entdeckten. Die Goldhäute von Ceres befanden sich mit den Radargeräten in seinem Rücken. Unsere Schiffe befanden sich vor ihm, und sie beschleunigten alle mit einer Geschwindigkeit von 2g. Sein Minenschiff konnte nur bis 1,5g beschleunigen, also stand fest, daß sie ihn über kurz oder lang einholen mußten, ganz gleich, was er tat. Und dann stellte er fest, daß sich der Mars genau vor ihm befand.«
»Das Loch.« Garner kannte genug Belter, um einiges von ihrer Sprache aufgeschnappt zu haben.
»Genau das. Sein erster Gedanke muß gewesen sein, die Richtung zu ändern. Die Belter lernen es, Gravitationstrichtern auszuweichen. Ein Mensch kann auf vielerlei Arten ums Leben kommen, wenn er einem Loch zu nahe tritt. Eine gute Selbststeuerungsanlage kann sein Schiff sicher um das Loch herumsteuern, den Ein- und Austritt in den Wirbel programmieren oder es sogar, Gott bewahre, auf dem Grund landen. Aber die Minenschürfer verfügen nicht über gute Selbststeuerungsanlagen. Ihre Schiffe sind mit billigen Anlagen ausgerüstet, und darum meiden sie die Löcher.«
»Sie wollen doch auf etwas hinaus«, sagte Garner mit leichtem Bedauern. »Etwas Geschäftliches?«
»Sie sind zu alt, um sich hinters Licht führen zu lassen.«
Manchmal war Garner selbst davon überzeugt. Irgendwann zwischen dem Zweiten Weltkrieg und der Entscheidung der zweiten Blasenwelt hatte Garner gelernt, in den Gesichtern der Menschen ebenso deutlich zu lesen wie andere Leute in Büchern. Oft sparte ihm das Zeit – und in Garners Augen war Zeit es wert, daß man sparsam damit umging.
»Reden Sie weiter«, sagte er.
»Müllers zweiter Gedanke war, sich des Lochs zu bedienen. Durch einen Ein- und Wiederaustritt in den Wirbel konnte er die Richtung wirkungsvoller ändern als mit Hilfe des Motors. Er konnte das Manöver so anlegen, daß der Mars ihn beim Wiederaustritt vor Ceres verbarg. Er konnte auch
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