Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr
Als sie im Herbst mit dem soeben ausgebürgerten Wolf Biermann in der Essener Grugahalle auftraten, rief ein entfesselter Daniel Cohn-Bendit »S-P-D – rot wie Schnee« und hielt dazu ein Transparent mit der Aufschrift »Alles, was uns fehlt, ist das Geld«, eine Anspielung auf die Scherben-Textzeile »Alles, was uns fehlt, ist die Solidarität«.
Auch sonst machte es keinen Spaß mehr, live aufzutreten. Ein Konzert im Hamburger Audimax wurde von Otto Mühls AAO gestört, weil Rio »sexistisch mit dem Arsch wackeln« würde – woraufhin der sich empörte: »Ich gestehe, ich bin schwul!« Und in Heidelberg wurden sie kurz darauf gar mit Tampons beworfen, was zur Folge hatte, dass sie in den kommenden Jahren so gut wie gar nicht mehr auftraten.
Fluchtpunkt Fresenhagen — Rio in seinem Arbeitszimmer
14 Hallo, hallo, ist dort die Irrenanstalt?
Das Rock-Business war in den siebziger Jahren beinhart heterosexuell. Das ist es im Prinzip auch heute noch, obwohl Elton John, Boy George oder Marc Almond schon vor Jahren nicht länger mit ihrer Homosexualität hinterm Berg hielten und sich outeten, aber finde mal einen Gitarristen oder Schlagzeuger, der sich offen zu seiner geschlechtlichen Ausrichtung bekennt. Aus der Sicht eines Schwulen war es deshalb völlig widersinnig, auch noch aus der Großstadt in die Provinz, von Berlin nach Fresenhagen, zu ziehen, wo man höchstens mal in der Disco in Niebüll mit jemand anbändeln konnte. Zumal, wenn man sich von proletarischen Jugendlichen angezogen fühlte, denen man nicht unbedingt ansah, dass sie schwul sind, und die es auch häufig nicht waren.
Im Grunde habe man das Unglück schon riechen können, wenn Rio sich wieder mal in einen hübschen Jungen verliebte, meint Corny Littmann, inzwischen Intendant des Hamburger Schmidt-Theaters und Präsident des FC St. Pauli. Rios Sexualität sei für die meisten Mitglieder der Scherben-Community eine fremde Welt gewesen, und sie hätten mit seinem Schwulsein mindestens genauso viele Probleme gehabt wie er selbst. Zwar habe man sich nach außen hin libertinös gegeben, im Kern sei man jedoch ähnlich spießig gewesen wie die meisten Heteros.
Da war es geradezu ein Glücksfall für Rio, dass er über die Rote Rübe, für die die Scherben die Musik zu ihrem Stück Liebe, Tod & Hysterie geschrieben hatten, die Theatergruppe Brühwarm kennen lernte. Die brachte Szenen aus dem schwulen Leben auf die Bühne, so dass heterosexuelle Studenten ihre Neugier befriedigen und endlich mal leibhaftige Männer sehen konnten, die »anders« waren. Rio wurde schnell warm mit den schwulen Aktivisten um Corny Littmann, der sein Schwulsein nie verhehlt hat (und deshalb noch immer angefeindet wird). Nachdem er sie in München auf der Bühne gesehen hatte, kam er auf die Idee, Songs über das schwule Leben zu schreiben. Denn die gab es damals noch nicht, zumindest nicht in deutscher Sprache.
Bei »Sonnenschein, Wind, Regen, Mond, Gewitter und Stromausfall«, wie es auf der Plattenhülle vermerkt ist, nahmen Brühwarm und die Scherben im Sommer 1977 die LP Mannstoll auf, »die damals erste schwule Platte«, die live das Theaterstück Männercharme untermalte. Bevor sie acht Playbacks in nur einer Nacht aufnahmen, warfen Rio, Lanrue und Kai LSD ein. In den Texten, für die Brühwarm verantwortlich waren, ging es hingegen fast ausschließlich ums Ficken, und die Songs hießen Boogie anal oder Mittendrin im Jugendrausch . Mit Kommen Sie schnell enthielt das Album aber auch einen Song, der 1980 auf einer Single von Corny, Ernst & Scherben erschien, später von den Scherben auch live gespielt wurde (zu hören auf der CD live II ) und 1993 unter dem Titel Irrenanstalt von Rio für sein Album Über Alles erneut aufgenommen wurde.
Bezeichnenderweise, nicht aus Absicht, sondern weil man sich »daran« nicht mehr erinnern konnte, wird ein Auftritt beim Brühwarm-Ball in der alten Hamburger Uni-Mensa in der Scherben-Chronik nicht aufgeführt – ein Schelm, der Böses dabei denkt. Die Atmosphäre war, wie sich Corny Littmann erinnert, »sowas von drüber und exzessiv«. In einem Saal spielten die Scherben, und im anderen vögelte Rosa von Praunheim auf offener Bühne mit Frank Ripploh, der sich damals Peggy von Schlottgenberg nannte.
»Für Rio war es eine Befreiung, mit der brühwarmen Schwulen-Truppe zu leben und zu arbeiten«, schreibt Kai Sichtermann in Keine Macht für Niemand . »Er wurde offener, zugänglicher und ging mit der eigenen Homosexualität viel
Weitere Kostenlose Bücher