Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr
auftauchte und Ufos sah. Rio und Nina verstanden sich auf Anhieb und beschlossen schon am ersten Abend zu heiraten. Diesen Joke setzten sie dann zwar doch nicht in die Tat um, die Begegnung der beiden Stars, die sich zeit ihres Lebens in kein Korsett zwängen ließen, hatte jedoch zur Folge, dass Rio sich langsam wieder mit dem Gedanken vertraut machte, eine neue Platte aufzunehmen.
Wie an Nina, so war der Punk auch an Rio nicht spurlos vorbeigegangen. Er war »total begeistert« von dieser neuen Welle, die aus England zu uns herüberschwappte, inbesondere von The Clash, die ihm »über mehrere LPs hinweg« gefielen und an die Anfangszeit der Scherben erinnerten.
Gemeinsam mit Lanrue besuchte er Hannes Eyber, den sie einst am Frankfurter TAT kennen gelernt hatten, in Italien. »Bei Rotwein und Grappa«, so Eyber, »hatten wir die Erleuchtung, dass es mal wieder Zeit wäre für eine Scherben-Produktion.«
Wieder daheim wurde die Band zusammengetrommelt und darüber informiert. Kai Sichtermann, der noch immer abwechselnd in Angeln an der Schlei und Fresenhagen wohnte, wurde die Pistole auf die Brust gesetzt: »Rio gab mir zu verstehen, dass es besser wäre, wenn ich fest (in Fresenhagen) einziehe. Es war eine Entweder-Oder-Entscheidung.«
Auf astrologischer Basis errechneten sie, wann es am besten wäre, mit der Produktion ihres vierten Albums anzufangen, und mit Hilfe von Tarotkarten ermittelten sie, wer welchen Text schreiben und wer dazu die Musik komponieren sollte. Hannes Eyber, der die Platte produzierte, kam sich vor wie auf einem Trip in eine andere Galaxis: »Fresenhagen hatte sein eigenes Zeitmaß. Du kamst in Niebüll mit dem Zug an und konntest deine Uhr wegschmeißen – alle Zeitstrukturen, an die du gewöhnt warst, galten nicht mehr. Fresenhagen war eine andere Welt, hatte sein eigenes Klima. Das galt für alle Leute, die da ankamen, egal, ob es nun Freunde, Familie, Bekannte, Musiker oder Gerichtsvollzieher waren. Mit dem Eintritt durch das Hoftor waren alle wie verzaubert.« Und Eyber spürte geradezu, wie er sich geistig und körperlich veränderte und im Laufe der Produktion zusehends in einen rauschartigen Zustand verfiel.
Ohne die fünfjährige Auszeit, glaubt Kai Sichtermann, wäre es nie zu diesem »Fest an Experimentierfreudigkeit« und zu dieser »Explosion an Kreativität« gekommen. Ohne die dabei konsumierten Drogen aber wohl auch nicht. Neben der »obligatorischen Whisky-Flasche« kamen bei der Produktion »Koks, Opium-Tee, LSD« und »irgendwelche magischen Pilze« zum Einsatz. Jedenfalls haben die Scherben niemals zuvor und nie danach »so intensiv und konzentriert zusammen gelebt und Musik gemacht«.
Mitunter nahm das allerdings auch unbarmherzige Züge an, beispielsweise, als Rio den armen Funky den obligatorischen Karl-May-Titel Der Fremde aus Indien so lange, insgesamt 16 Stunden, spielen ließ, bis ihm ein bestimmter Schlagzeugwirbel gefiel, der als »Sechzehnstundenwirbel« Einzug in die Band-Historie hielt.
Die damals wichtigste deutschsprachige Musikzeitschrift Sounds lobte, dass die mit dem vorherigen Album begonnene Linie fortgesetzt wurde: »Kein Parolenschwingen, kein Schlagwortgeklopfe mehr, eher Ich-bezogene Privatlyrik.« Heiße Eisen wie Heroin oder Konsumterror blieben zwar nicht unberührt, würden aber nicht bloß zu Kampfschwertern umgearbeitet, sondern zu Werkzeugen, »mit denen sich in Haus und Hof manch Nützliches vollbringen lässt«. Statt auf die Songs, etwa den überaus brillanten Opener Jenseits von Eden , die wahnsinnig rasante Country-Nummer Der Turm stürzt ein , die von Oriana Fallacis Briefen an ein ungeborenes Kind inspirierte Warnung Bleib wo du bist oder den an John Lennons Whatever Gets You Through The Night angelehnten Gospel-Song (Auf ein) Happy-End, näher einzugehen, füllte der Sounds -Volontär Michael O. R. Kröher die Zeilen jedoch mit einer Kritik an der »lausigen Fertigungsqualität«, die nicht mal »die Qualitätsansprüche jedweder Prüfungskommission der Mongolischen Volksrepublik« bestehen würde: »Es rauscht, knackt und rumpelt, dass eine Herde phlegmatischer Yaks in Panik geraten müsste. Das Pressmaterial ist so weich und brüchig, dass die Texte schon nach fünf- bis sechsmal Abspielen im allgemeinen rosa Rauschen untertauchen. Wen ärgert’s dann noch, dass Textblatt sowie sämtliche Angaben über Besetzung oder Instrumentierung fehlen?«
Dass dieses schwarze Album eine bewusste Anspielung sein könnte, weil es sich von
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