Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr
seinen Vorgängern ähnlich unterschied wie das weiße Album der Beatles von den seinen, kam dem Sounds -Rezensenten gar nicht erst in den Sinn. Und auch nicht, dass man vielleicht ganz bewusst auf den Abdruck der Texte und nähere Angaben zur Besetzung verzichtet hatte. Sei’s drum, ab der zweiten Auflage hieß das Album TonSteineScherben IV , enthielt alle Texte, und auf dem immer noch schwarzen Cover war sogar etwas abgebildet – eine geringfügig glänzende Schallplatte aus schwarzem Vinyl. Allein die Klangqualität war kaum besser geworden, weil man auf eine LP statt 30 Minuten Musik fast 45 gepresst hatte, was den Scherben erst bei der Überspielung, dem peniblen Sounds -Kritiker hingegen gar nicht aufgefallen war.
Aber auch anderen war das schwarze Album ein Dorn im Ohr. Ted Gaier störte sich noch mehr als 25 Jahre später daran, dass Rio Texte genuschelt und gekiekst habe, »die wahlweise absurd assoziativ, kindisch oder tiefsinnig sein sollen«, und die Band »zwischen Spinal Tap -artigem Zwergentanz und ehrlichen Rock-Riffs« lavierte. Als »Propagandawaffe zur Hebung der Kampfmoral« während der Häuserkämpfe der achtziger Jahre hätte das 72er Album Keine Macht für Niemand noch immer ausgereicht.
Undogmatischere Scherben-Fans störten sich indes nicht daran, dass sie die Propaganda-Ebene längst hinter sich gelassen hatten und ein breites Spektrum zeitgemäßer Stilrichtungen ausloteten. Ihrer Meinung nach war die IV für Ton Steine Scherben das, was das Album Exile On Main Street für die Stones oder London Calling für The Clash war – der musikalische Höhepunkt ihrer Karriere.
16 Jetzt schlägt’s dreizehn
Die Bundestagswahl 1980 stand ganz unter dem Zeichen der Kandidatur von Franz Josef Strauß für das Amt des Bundeskanzlers. Die im Vorjahr gegründete grüne Partei machte sich deshalb wenig Hoffnungen, gleich auf Anhieb in den Bundestag zu kommen und ein paar Mandate zu gewinnen, sondern verstand ihre Teilnahme eher symbolisch. Parteiintern stritten großstädtische Linke der Berliner Alternativen Liste mit dem gewerkschaftlich orientierten Stuttgarter Willi Hoss, dem Öko-Bauern Baldur Springmann und dem CDU-Dissidenten Herbert Gruhl um die ideologische Ausrichtung der Grünen. Vor diesem Hintergrund kam es einer innerparteilichen Provokation gleich, als die Hamburger GAL den bekennenden Schwulen Corny Littmann zu ihrem Spitzenkandidaten kürte.
Die Single Das ist unser Land , die er gemeinsam mit Ernst Meybeck (Ex-Brühwarm) und den Scherben aufnahm und die den Wahl-TV-Spot der Grün-Alternativen Liste Hamburg untermalte, war sicherlich keine musikalische Offenbarung, begann aber herrlich (selbst-)ironisch – mit Gänsegeschnatter.
Der CSU-Vorsitzende Strauß konnte bei der Wahl bekanntlich auf seinem Weg an die Macht gestoppt werden, die Grünen erhielten jedoch nur magere 1,5 Prozent der Stimmen und mussten vorerst noch draußen bleiben. Wer allerdings gehofft hatte, die GAL würde für ihre Kandidatenwahl abgestraft, hatte nun Gelegenheit, seine Bissfestigkeit an einer Tischkante zu testen: Im bundesweiten Vergleich erzielte der Hamburger Landesverband mit seinem Kandidaten Corny Littmann nach Bremen das zweitbeste Ergebnis, während seine innerparteilichen Gegner samt und sonders abgeschmiert waren, egal, ob sie nun eher ökonomisch oder ökologisch orientiert waren.
Ein paar Monate vorher, am 1. Mai, waren Ton Steine Scherben erstmals seit langer Zeit wieder live aufgetreten – anlässlich der Eröffnung des Tempodroms, eines Zirkuszeltes, das seine Pflöcke unweit der Mauer am Potsdamer Platz eingeschlagen hatte, dort, wo heute das Sony-Gebäude steht. Die Tempodrom-Chefin Irene Moessinger, die eine halbe Million Mark geerbt hatte und sich mit diesem Kulturzirkus einen Traum erfüllte, war eine alte Bekannte der Scherben – sie hatte einst im Rauch-Haus gewohnt. Und gleich anschließend hatte Rio unter der Regie von Hans Noever die Film-Groteske Total vereist gedreht, in dem er einen Pianisten spielt, der sich auf einer obskuren Beerdigungsfeier eine irre Session mit dem Conga-Trommler Dave Coleman liefert (die leider bis heute weder auf Vinyl noch als CD vorliegt). Laut Peter Möbius soll er mit seiner Rolle jedoch »nicht glücklich« gewesen sein und den Film als »misslungen« empfunden haben.
Von klein auf hatten sich die Möbiusse gegenseitig unterstützt, und für Peter Möbius und seine historischen Stadt- und Schauspiele war es bestimmt nicht von Nachteil, dass
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