Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr
oder Buddy Miles, sich für Mitchell entschieden, den Rio nicht mochte, weil er »so viel Kringeling und Pingping« machte. Lanrue, der anfangs ja selbst Schlagzeug gespielt hatte, war jedoch froh, dass das leidige Drummer-Problem endlich beendet war, so dass sie die Entscheidung einem I-Ging überließen.
Bei einem Benefizkonzert für ein besetztes Haus, die »Putte« im roten Wedding, bewarfen die reformierten Scherben, bei denen vorübergehend Werner Götz Bass spielte, die revolutionären Massen mit Glitzer – Glam Rock war schließlich gerade schwer angesagt, und da wollte man nicht abseits stehen. Auf einer Solidaritätsveranstaltung in Braunschweig für die chilenische Volksfront forderten sie: »Hoch die internationale Kinderschokolade!« Und dem Kreuzberger Politguru Lothar Binger sagte Rio ins Gesicht, dass endlich Schluss sein müsse mit der tristen linken Kleiderordnung und den ewigen Manifesten: »Wie wäre es, mal wieder Tanzen zu lernen?«
»Wenn die Nacht am tiefsten« - Berliner Gruppenbild und Albumcover
13 Land in Sicht
In der Zeit zwischen Mai 1974 und April 1975 hatten die Scherben ihr drittes Album – ihr zweites Doppelalbum – aufgenommen. Den Titelsong hatte Lanrue bereits 1971 komponiert, zum Text war Rio von dem nordvietnamesischen Präsidenten Ho-Chi-Minh inspiriert worden, der einst gesagt hatte: »Wenn die Nacht am tiefsten, ist der Tag am nächsten.« Aus dem gleichen Jahr stammte Land in Sicht , das Rio damals mit einem englischen Text geschrieben hatte, den er nun verwarf und durch einen deutschen ersetzte, weil er die Feinheiten der englischen Sprache nicht kannte; darauf angesprochen, warum er nicht englisch singe, sagte er später, 1987, mal: »In Deutsch kann ich auch meine kleinen, dummen Wortspiele machen.« Der Text zu Samstagnachmittag hatte ebenfalls schon etwas Patina angesetzt – er stammte noch aus der Zeit mit den Roten Steinen.
Nimm den Hammer war eine eingedeutschte Adaption des Skiffle-Hits Take This Hammer und Halt dich an deiner Liebe fest, ein ungeschminktes Liebeslied, das er im Grunde seinem damaligen Freund Lutz verdankte, in den er höllisch verliebt war. Den Text zu Ich geh weg hatte er im Irland-Urlaub geschrieben, und der obligatorische Karl-May-Titel Durch die Wüste hieß zunächst Strafkolonie Erde und spiegelte die Sciencefiction-Phantasien von Uli Hammer wider, der mit ihnen am T-Ufer wohnte.
Bevor Wenn die Nacht am tiefsten veröffentlicht werden konnte, kam es jedoch bei einem Solidaritätskonzert, für das sie eine Mini-Gage von 300 Mark erhielten, zum Eklat. »Ich weiß noch, wie ich abends fix und fertig vom Arbeiten nach Hause kam«, erinnerte sich Klaus Götzner, der von Rio Funky getauft wurde, weil er »nebenbei« noch in einer Funk-Band spielen wollte, später im Rolling Stone : »Wir haben das Equipment in unseren alten Hanomag geladen, haben alles in den vierten Stock geschleppt und die Schrottanlage aufgebaut. Keiner hatte bis dahin etwas gegessen an diesem Tag. Deshalb fragten wir nach einer Platte mit Schmalzbroten, die dort herumstand.« Die Frau hinterm Tresen gab ihnen jedoch unmissverständlich zu verstehen, dass auch sie dafür den »Solidaritätspreis« zu entrichten hätten – woraufhin Rio ausflippte, sich theatralisch das Hemd aufriss, rumbrüllte und die Platte durch den Raum schleuderte. Funky: »Am nächsten Vormittag wurde ein Plenum einberufen – und entschieden, dass wir Berlin verlassen.« Mit Sack und Pack und Mann und Maus bzw. Katze zogen die Scherben aufs Land, ins nordfriesische Fresenhagen, wo man sehr günstig einen völlig heruntergekommenen Bauernhof erstanden hatte.
Die Auffahrt war mit Ulmen gesäumt, vor dem Haus befand sich ein Garten und dahinter wuchsen mehr oder weniger wild ein paar Obstbäume. Aus der Nähe betrachtet sah das allerdings ziemlich verrottet aus, wie Dietmar Roberg im Scherben-Songbook schrieb: »Teile des halbverfaulten Reetdachs hatte der letzte Sturm weggeblasen. Durch den Dachstuhl des Stalls, der direkt mit dem Wohngebäude verbunden war, konnte man hindurchsehen. Die klaffenden Löcher über den Wohnräumen waren notdürftig mit einer im Wind klatschenden Plastikplane zugedeckt. Feuchte klamme Kälte kroch durch die schimmeligen Mauern, und Wasserflecken an Decken und Wänden zeigten, wo es überall reingeregnet hatte. Von dem mehrere hundert Quadratmeter großen Gehöft war nur die Küche richtig bewohn- und beheizbar.«
Dass Landluft nicht unbedingt frei macht, bekamen
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