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Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr

Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr

Titel: Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hollow Skai
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sie schon bald zu spüren. Weil einer der »Kurzen« – so wurden die ehemaligen Rauch-Haus-Bewohner und Heimzöglinge genannt, die man als »proletarisches Gegengewicht« 1973 aufgenommen hatte, um nicht zur elitären Künstlerkommune zu verkommen – nicht rechtzeitig in der Berufsschule erschienen war, wurde der Hof gleich von zwei Hundertschaften (!) Bereitschaftspolizei durchsucht.
    Der Lebensunterhalt wurde hauptsächlich von den LP-Verkäufen bestritten, auch wenn ihr im September 1975 endlich erschienenes drittes Album etwas hinter den Erwartungen zurückblieb und sich bei weitem nicht so gut verkaufte wie Keine Macht für Niemand (das noch heute mit Abstand das bestverkaufte Scherben-Album ist). Obwohl Wenn die Nacht am tiefsten noch in Berlin entstanden war, galt es vor allem im linken Buchhandel als unpolitischer Ausdruck ihrer Landflucht und wurde, wenn schon nicht boykottiert, dann zumindest madig gemacht. Dazu mag ein Fernsehbericht von Tilman Jens über »die neue Innerlichkeit« beigetragen haben, für den die Scherben, die ihre Anlage in den Dünen am Lister Bogen von Sylt aufgebaut hatten und Land in Sicht spielten, von einem eigens gecharterten Hubschrauber aus gefilmt wurden.
    Rio wollte allerdings auch deutlich mit der Vergangenheit brechen. Statt Ton Steine Scherben sollte sich die Band nun Zirkus Feuerstern nennen und auch Tanzmusik spielen dürfen. Und an Dietmar Robergs Kinderhörspiel Teufel hast du Wind , das 1976 aufgenommen wurde, sollten sich »wirklich alle« beteiligen.
    Als Roberg im Februar in Fresenhagen eintraf, hatte er jedoch den Eindruck, »dass Rio und Lanrue einfach ihre Ruhe haben wollten und, an einem Punkt innerer Ratlosigkeit und Erschöpfung angekommen, keine entscheidenden Impulse zu geben vermochten. Zudem war Rio in einer durch den Tod eines Freundes ausgelösten persönlichen Krise« und Lanrue der Einzige, »der während dieser Zeit mit ihm umgehen konnte«. Raymond Fleschner war bei einem Unfall ums Leben gekommen, und im selben Jahr starb auch sein Ex-Freund Andy an einer Überdosis Heroin.
    Für die Münchener Rote Rübe, damals Deutschlands profilierteste freie Theatergruppe, schrieben Rio und Lanrue die Musik zur Revue Paranoia , für Michael Kramers Film Oma-Killer den Soundtrack, und als Gert Möbius Rio die Rohfassung eines Streifens über arbeitslose Jugendliche gezeigt hatte, legte der sich in Gerts Badewanne und spielte ihm anschließend den fertigen Song am Klavier vor. Der hieß zunächst noch Arbeitslosenreggae , wurde später aber in Mole Hill Rockers umgetauft und 1983 auf dem Scherben -Album veröffentlicht.
    Gemeinsam mit den Gruppen Sparifankal, Embryo und Missus Beastly gründeten Ton Steine Scherben 1976 auch April Records – Musik im Vertrieb der Musiker, die Mutter aller deutschen Indie-Vertriebe. Zwar musste April schon kurz darauf in Schneeball umbenannt werden, weil der CBS-Konzern in den USA ein gleichnamiges Label besaß und massive Geschäftseinbußen befürchtete, der Schneeball wurde im Zuge von Punk und Neuer Welle aber zur Lawine, und daraus entstanden schließlich der Efa- und später auch der Indigo-Vertrieb, ohne die es heute so manches Independent-Label (in Deutschland) nicht geben würde.
    Die allererste Fresenhagen-Produktion, das Kinderhörspiel Teufel hast du Wind , wurde vom Rotbuch Verlag allerdings wegen technischer Mängel abgelehnt, und auch sonst stand das Experiment Landkommune unter keinem guten Stern. Die SPD hatte den Scherben zwar angeboten, für eine Gage von 60 000 Mark eine Art Musical des Kabarettisten Gerd Ruge zu vertonen und es auf einer Tournee auch aufzuführen, aber Wahlkampf für die SPD zu machen konnten sie sich jedoch beim besten Willen nicht vorstellen. Für ein wesentlich geringeres Honorar, 10 000 Mark, erklärten sich Rio und Lanrue jedoch bereit, ein paar Lieder zu schreiben, die von Captain Hammer aufgeführt wurden, einer Band, der ausschließlich Musiker aus dem Umkreis der Scherben angehörten: Jako Benz von den Roten Steinen, Uli Hammer, der mit am T-Ufer gewohnt hatte, Kai Sichtermann, der bis 1973 ihr Bassist gewesen war, nun aber in Flensburg wohnte, und ausgerechnet Wolfgang Seidel, der sich nach Rios Tod zum linken Lordsiegelbewahrer aufschwingen und seine Teilnahme daran mit der Standardantwort von Playmates rechtfertigen sollte: »Wir waren jung und brauchten das Geld.«
    Auszubaden hatten diesen Ausflug in SPD-Gefilde allerdings die Scherben, die nicht mit auf der Bühne standen.

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