Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr
Rio die Musik dazu komponierte. So auch im Fall der Märzstürme , einer Revue über den Volksaufstand 1920, die von Hoffmanns Comic Teater 1981 in verschiedenen Städten des Ruhrgebiets aufgeführt wurde und für die Rio unter anderem den Song Jetzt schlägt’s dreizehn schrieb, den er 1991 auch auf seine Solo-CD Durch die Wand packte. In einer Befreiungsszene sang er zudem erstmals ein Lied, das aus der Zeit der Revolution von 1848 stammte und das er später mit dem Hinweis »Achtet auf die Message!« ansagte – Auf einem Baum ein Kuckuck saß .
Parallel dazu erschien bei der David Volksmund Produktion, die zu seiner zweiten Familie geworden war, ein Album der Stricher, einer Band aus Nordfriesland, die Rio in der Diskothek »Trichter« in Niebüll kennen gelernt hatte, als sie sich noch Space Keks nannten. Für den Bassisten Jochen Hansen war es »eine große Ehre«, »von Rio produziert zu werden«, der als Lohn nur täglich eine Flasche Whisky von ihnen haben wollte – »und die hat er auch geschafft«.
Das im März 1981 veröffentlichte vierte Scherben-Album verkaufte sich allerdings bei weitem nicht so gut wie erhofft, weil inzwischen ein Paradigmenwechsel stattgefunden hatte, der offensichtlich an den Scherben vorbeigegangen war, wie Ted Gaier feststellte: »Punk hatte neue Verhältnisse geschaffen« und »pure Authentizität stellte keinen Wert an sich mehr dar«. Die Band musste wohl oder übel wieder auf Tour gehen, um das Album unter die Leute zu bringen.
Ein erster Testauftritt fand in der Berliner Eissporthalle statt, gemeinsam mit Ideal, einer NDW-Kapelle um die Sängerin Annette Humpe, und zu Gunsten der Instandbesetzer, wie man Hausbesetzer in den achtziger Jahren nannte. Während der Sound beim Auftritt von Ideal dem Gruppennamen entsprach, kämpften die Scherben jedoch verzweifelt mit den Wirren der Technik und warben so nicht gerade für ihre 82er Konzertreise, die als »Elser-Tour« in die Band-Geschichte eingehen und den Scherben finanziell das Genick brechen sollte.
Rio live auf der Elser-Tour
17 Der Turm stürzt ein
Als die Scherben 1982 nach fünfjähriger Pause wieder auf Tour gingen und 44 Auftritte in acht Wochen absolvierten, wollten sie verständlicherweise nicht mehr in Wohngemeinschaften übernachten, sondern wie jede andere Rockband auch in Hotels. Die Zeiten, wo eine Gruppe ihre Anlage noch selbst aufbaute, waren gottlob vorbei. Und vor jedem Auftritt hatte ein gut gekühltes Gläschen Champagner für jeden der sechs Musiker bereitzustehen.
Zur Band gehörten neben Rio und Lanrue, Funky und Kai nun auch der Keyboarder Martin Paul Hartmann, den Rio bei der Arbeit für die Revue Märzstürme kennen gelernt hatte, und der Rhythmusgitarrist Marius del Mestre, der zuvor bei der Berliner New-Wave-Band Tempo den Ton angegeben hatte.
Vor allem del Mestre war ein enormer Zugewinn, machte er den anderen Scherben mit seinem schnellen Gitarrenspiel doch gehörig Feuer unterm Arsch, so dass sie live geradezu über sich hinauswuchsen. Mit seiner Rockabilly-Tolle und einem T-Shirt, auf dem eine Micky-Maus abgebildet war, allerdings eine, deren eines Ohr aus einem Anarcho-A bestand, sorgte er auch optisch für neuen Wind.
Del Mestre ermöglichte es Lanrue, mit seiner Gitarre über die Bühne zu flanieren, und dementsprechend war der auch gewandet – in seinem weißen Jackett, mit seinem Strohhut und dem Halstuch ähnelte er weniger einem Rock’n’ Roller als einem Gitarristen vom Schlage eines Django Reinhardt.
Hartmann, der bei den Scherben nur Martin Paul hieß, erinnerte in seiner Weste, die er über einem langärmeligen weißen Hemd trug, und vor allem wenn er sich geschminkt hatte, entfernt an die weniger extrovertierten Mitglieder der Pomp-Rockband Queen. Kai Sichtermann spielte dazu so unauffällig Bass wie Bill Wyman bei den Stones, Funky trommelte sich die Lunge aus dem Leib, und Rio wälzte sich in seinem langen weißen Büßerhemd mitunter auf dem Boden, als würde er tausend Tode sterben.
Die Idee für ihre Lightshow hatten sie bei der Peking-Oper geklaut, und musikalisch gesehen waren die Scherben noch nie so gut gewesen wie auf dieser Tour, die sie quer durch Deutschland führte und von deren Klasse ein Auftritt in der Hamburger Markthalle zeugt, der vom Rockpalast des WDR aufgezeichnet wurde. Fast immer spielten sie in ausverkauften Hallen, und sogar der »unsolidarische« Sounds -Kritiker Michael O. R. Kröher war begeistert: »Lanrue hat in den letzten sechs Jahren
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