Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr
Organisationstalent Rio schon bei der Märzstürme -Revue von Hoffmanns Comic Teater aufgefallen war. Roth stellte denn auch in kürzester Zeit eine weitere Tour zusammen, die sie »Maiausflug mit Schneewittchen« nannte, und unter ihrer Regie gaben die Scherben Solidaritätskonzerte für Nicaragua und Angeklagte, die gegen das AKW Brokdorf demonstriert hatten.
Dass Ton Steine Scherben eine erstklassige Live-Band sind, hatte sich mittlerweile auch bis zum deutschen Konzert-Papst Fritz Rau rumgesprochen, der sie zu »des Herrgotts Lieblingsband« ernannte und vorübergehend unter seine Fittiche nahm. Gemeinsam mit Hage Hein und dessen Agentur Shitmann & Blau veranstaltete die größte deutsche Konzertagentur Lippmann & Rau im Frühjahr 1983 die »Heut Nacht oder nie«-Tour, auf der die Scherben gemeinsam mit der Schroeder Roadshow, einer »banalanarchistischen Vorstufe von Pur«, und dem (Pausen-)Clown Eisi Gulp auftraten, die beide von Hein gemanagt wurden.
Vorher musste allerdings noch schnell ein neues Album aufgenommen werden. Der ganze Aufwand sollte sich schließlich auch lohnen.
18 Allein machen sie dich ein
Nachdem »das schwarze Album« allgemein wegen der unterirdischen Klangqualität kritisiert worden war, wurde für die nun anstehenden Aufnahmen der Toningenieur Jon Caffery engagiert, der bereits mit den Sex Pistols gearbeitet hatte, wenn auch nicht in verantwortlicher Position; als Produzent verpflichteten die Scherben erneut Hannes Eyber. Ohne dass er es ahnte, bekam Rio jedoch schon einen kleinen Ausblick auf die Arbeit an einer Platte während seiner Solo-Karriere: »Mein Einfluss war ziemlich gering.«
Vorher wurde allerdings noch Marius del Mestre gefeuert, der sich erdreistet hatte, Songs einzureichen, weil er das von Tempo her so gewohnt war. Es war vielleicht das einzige Mal, dass Rio, der stets erwartete, dass andere merkten, was in ihm vorging, in aller Offenheit aussprach, was er dachte. Offenbar habe er, so Hannes Eyber, ein »Bauernopfer« für das Debakel mit der Elser-Tour gesucht, und da habe sich Marius eben angeboten, weil er in Lanrues Schwester Elfie »verliebt war und nicht mitlitt«.
Kai Sichtermann zufolge sei es schwierig gewesen, mit Marius darüber zu sprechen, dass er sich mit Übereifer in den Vordergrund dränge. Sprach man ihn darauf an, habe der stets nur gekontert: »Das ist Rock’n’ Roll!« Als Rio ihm nun bei einer Band-Besprechung mitteilte, dass man sich von ihm trennen wolle, begründete er diesen Schritt mit Marius’ Standardantwort.
Del Mestre, der kurioserweise später das Rio Reiser Haus leitete, erinnert sich allerdings etwas anders daran. Rio habe zwar seinen Rauswurf betrieben, aber die Band vor die Wahl gestellt, wer gehen solle – »er oder ich?« Was selbstverständlich rein rhetorisch gemeint war. Den Gedanken, es auf eine Abstimmung ankommen zu lassen, habe er deshalb unterdrückt.
Wie üblich wurden die Songs, die auf das Album sollten, demokratisch ausgewählt, wobei Rio seinem Freund Misha, in den er sich an einem Off-day am Vierwaldstätter See während der 82er-Tour verliebt hatte, im stillen Kämmerlein zu verstehen gab: »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ein Song auf die Platte kommt, von dem ich nicht will, dass er raufkommt!«
Gleich zu Beginn stellten die Scherben die Frage Wo sind wir jetzt und warfen ihren Mitmenschen verklausuliert vor, ihre »Seele versetzt« und ihre »Herzen verkauft« zu haben. In Regentag beschrieb Kai Sichtermann seine Gefühle als junger Vater: »Ich fühl gut, ich fühl warm, fühl mich wie Lisa auf Mamis Arm.« Mit Ardistan , einem Song über einen vergessenen Planeten auf der anderen Seite der Sonne, sozusagen einem Doppelgänger der Erde, auf dem das Gute wie das Schlechte extremer ausgeprägt sind als bei uns, enthielt das Album erneut einen Karl-May-Titel. Mole Hill Rockers war eine überarbeitete Version des Arbeitslosenreggae . Den Titel Sternschnuppen hätte Hannes Eyber am liebsten Minetti genannt, stieß damit aber auf erbitterten Widerstand bei Rios Freund Misha Schöneberg, von dem der Text stammte und der sich später gekränkt fühlte, als der Text in einer Plattenkritik irrtümlich Rio zugeschlagen wurde, der das aber nicht dementierte, sondern nur meinte: »Du weißt doch wie Journalisten sind.« Und Lass uns’n Wunder sein war ein ungeschminkter Love Song, verbunden allerdings mit dem Wunsch, aus dem Korsett einer Zweierbeziehung auszubrechen.
Erstmals ließen sich die Scherben
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