Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr
allein, als Band, für das Cover ablichten. Musikalisch glichen sie sich dem an, was 1983 unter Popmusik verstanden wurde. Und auch sonst legte es Rio darauf an, in die Bravo zu kommen: »Das ist doch das Publikum, das wirklich interessant ist. Wenn die mal zuhören, hast du wirklich was erreicht.« Sein Traum, darin als Starschnitt abgebildet zu werden, sollte sich jedoch ebenso wenig erfüllen wie der von einer goldenen Schallplatte.
Wie schon beim letzten Album, so wurde auch diesmal eine Single, Lass uns’n Wunder sein , ausgekoppelt und der Teldec überlassen, weil man sich davon erhoffte, endlich auch im Radio gespielt zu werden und so Käuferschichten zu erreichen, denen die Scherben bislang zu alternativ oder links waren. Die Rechnung ging allerdings erneut nicht auf, da sich eine Plattenfirma nicht ins Zeug legt, wenn sie nur an den Single-Verkäufen beteiligt ist und nicht am wesentlich lukrativeren Profit einer LP.
Auch die von Papa Rau mitveranstaltete Tournee hielt nicht, was man sich davon erhofft hatte. Rio hörte sich kaum singen, und wenn er den Monitormixer während des Konzertes darauf ansprach, meinte der nur, die Band sei zu laut – und las weiter in seinem Micky-Maus-Heft.
Als er seinen Frust schließlich in einem Konzert öffentlich machte, wurde er ins Lippman & Rau-Büro nach Bad Homburg zitiert, wo er sich erst einmal zwanzig Minuten lang »die Sprüche von Fritz Rau« anhören musste, bevor er ihm seine Sicht der Dinge darlegen konnte. Zähneknirschend und desillusioniert brachte er die Tournee hinter sich, die von Mr. Rockpalast, Christian Wagner, gefilmt und Jahre später unter dem Titel Allein machen sie dich ein auf DVD vermarktet wurde.
Nach diesem Flop war allen Beteiligten klar, dass sie die nächste Tour wieder auf eigene Faust organisieren würden, eine Aufgabe, die erneut Claudia Roth zufiel. Sie genoss die »anarchistische Freiheit, das zu tun, was du für richtig hältst«, stellte die nächste Tour unter das Motto Wo sind wir jetzt und ließ sie in ihrer Heimatstadt Ulm beginnen, wo die Scherben zusammen mit Peter Maffay, Bettina Wegner und Konstantin Wecker auf einem Open-Air-Festival auftraten, das eine Menschenkette gegen den Nato-Doppelbeschluss und die Stationierung von Pershing-II-Raketen in der BRD von Stuttgart bis Ulm flankierte.
Ende Januar 1984 nahmen die Scherben an der »Grünen Raupe« teil, einer Wahlkampf-Tournee der baden-württembergischen Grünen, auf der Thomas Ebermann, Petra Kelly und Otto Schily Reden schwangen, die Rio aber als »Anpassung an das linke Establishment« empfand. Mehr und mehr bereute er, Claudia Roth jemals ins Boot geholt zu haben. Zwar musste er zugeben, dass sie ihren Job gut machte und auch immer dafür sorgte, dass er morgens exklusiv baden konnte, allerdings behagte es ihm nicht, dass sie versuchte, die Scherben wieder an der Linken anzudocken und zur Hauskapelle der Grünen zu machen.
Auf der Schritt für Schritt ins Paradies -Tour im Frühjahr 1984, an deren Ende auch die 1985 und 1996 veröffentlichten Live-Alben der Scherben aufgenommen wurden, zitierte er Arthur Rimbaud: »Alle Himmel! Liebe! Freisein! Was für ein Traum, o arme Irre!« Es sollte jedoch noch ein Jahr dauern, bis es so weit war und Ton Steine Scherben ihr letztes Konzert gaben.
Am 6. März 1985 traten sie erneut auf einer Wahlkampfveranstaltung der Grünen auf. Nachdem der Konzertbeginn immer wieder verschoben worden war, weil die Reden der grünen Spitzenpolitiker kein Ende nahmen, stellte der Hausmeister mitten in Keine Macht für Niemand den Strom ab. Ton Steine Scherben konnten ihren Set nach langen Verhandlungen zwar noch zu Ende spielen, doch die Luft war raus, und die Band löste sich drei Monate später »in einer mystischen Stunde« auf.
19 Dr. Sommer
In Albrecht Metzgers Dokumentarfilm Halt dich an deiner Liebe fest über die musikalisch grandiose, kommerziell aber katastrophale Elser-Tour, stellte Rio nüchtern fest, dass es keine große Leistung sei, auf einen Pudding zu verzichten, wenn keiner im Kühlschrank sei. Nachdem aber auch das Pop-orientierte Scherben -Album nicht an die Verkaufszahlen von Keine Macht für Niemand heranreichte, herrschte im Kühlschrank gähnende Leere, und Schmalhans war in Fresenhagen mal wieder Küchenmeister.
Um halbwegs über die Runden zu kommen, nahm Rio so gut wie jeden Auftrag an, übersetzte englische Texte von Wolfgang Michels ins Deutsche und trat im Juli 1983 im Zelt der Hamburger Ufa-Fabrik und im
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