Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr
Dezember bei der Besetzung der Hamburger Kampnagel-Fabrik sogar solo auf. Rio sang Lieder von Hans Albers und Marlene Dietrich, Chuck Willis und den Rolling Stones und begleitete sich selbst am Flügel. Nicht nur für Corny Littmann waren das die eindrucksvollsten Konzerte, die er von ihm je gesehen hat.
Im Frühjahr des folgenden Jahres war die finanzielle Situation, in der sich die Scherben befanden, bereits mehr als prekär. Als sie die Schritt für Schritt ins Paradies -Tour zusammenstellte, musste sich Claudia Roth immer wieder von Veranstaltern zurückrufen lassen, um Telefonkosten zu sparen, und Rio war so pleite, dass er sich von Annette Humpe 10 000 Mark pumpen wollte. Geschäftstüchtig, wie sie ist, lehnte sie das Ansinnen ab, schlug ihm aber vor, stattdessen eine LP mit ihm zu produzieren. Aus einem ganz anderen Holz geschnitzt war da Ulla Meinecke, die kurz entschlossen ihr Scheckheft zückte und Rio einen Scheck über 10 000 Mark ausstellte.
Nichtsdestotrotz kam Rio auf Annette Humpes Angebot zurück und nahm für einen Vorschuss in Höhe von 5000 Mark die Single Dr. Sommer für die WEA auf, mit Jochen Hansen von den Strichern am Bass und Jaki Liebezeit von Can an den Drums. Der Song stammte noch aus der Zeit, als die Scherben am Tempelhofer Ufer in Berlin wohnten, die B-Seite betitelte B-Seite schrieb er im Taxi auf dem Weg ins Hansa-Tonstudio. Für ein Pressefoto stellte er den Sündenfall nach, indem er sich mit einem angebissenen Apfel fotografieren ließ.
Zwar hatte der Refrain von Dr. Sommer Ohrwurmcharakter, besaß aber wenig Elan und ließ jenen Pfiff vermissen, für den Annette Humpe seit Ideal ( Blaue Augen ) und DÖF ( Codo ) bekannt war. Bei der WEA wurde die Scheibe als Flop verbucht.
Während Rios Platten in den Läden vor sich hin dümpelten, wurden seine Songs von mehr oder minder erfolgreichen Industrie-Künstlern entdeckt. Klaus Lage war nicht der Erste, der sich an einer Cover-Version eines Scherben-Songs versuchte, aber er scheiterte damit grandios. Seine Interpretation des bis dato noch unveröffentlichten und nur von Live-Auftritten bekannten Zwischen Null und Zero kam einer Ohrfeige gleich, denn selten zuvor wurde ein Text derart undiszipliniert gesungen und mit einer Musik versehen, die mit dem Original rein gar nichts mehr gemein hatte.
Interessanterweise wurde Klaus Lages Version von dem Kölner Deutsch-Rocker Wolf Maahn produziert, um nicht zu sagen: glatt gebügelt, der auch zwei weitere Cover-Versionen auf dem Gewissen hat – Marianne Rosenbergs Lass uns’n Wunder sein und Halt dich an deiner Liebe fest von Schroeder (vormals Roadshow). Maahn jagte beide Songs durch den Weichspüler und beraubte sie so ihres subversiven Charmes, was auch dem CBS-Künstler Alan Woerner gelang, der wenig später ebenfalls Lass uns’n Wunder sein coverte. Am ehesten konnte noch die Hamburger PunkBand Slime den Scherben das Wasser reichen, die für ihr drittes Album als Hommage an die großen Vorbilder Ich will nicht werden, was mein Alter ist aufnahm. Sie spielten diesen aufrührerischen Song so, wie man das von ihnen gewohnt war: hart, schnell und frei von der Leber weg.
Nach der Auflösung der Scherben war es für Rio klar, dass er solo weitermachen würde. Herbert Grönemeyer, der 1985 mit Männer einen Riesen-Hit gelandet hatte, schickte er ein paar Demos und bat ihn, ihm zu helfen, bei der EMI-Electrola einen Plattenvertrag zu ergattern. In seiner Laudatio anlässlich der posthumen Verleihung der Eins-Live-Krone für sein Lebenswerk erinnerte Grönemeyer sich im November 2001 daran: »Meine Plattenfirma hat abgelehnt, zum Glück hat die Sony sie veröffentlicht. Es ist die beste deutsche Liederplatte, die je gemacht worden ist.«
Über Annette Humpe hatte Rio den Manager und Musikverleger George Glueck kennen gelernt, der die Demos zunächst dem WEA-Chef Manfred Zumkeller anbot, sich aber nur eine Abfuhr holte: »Du bietest mir ein Album an, aber ich sehe noch nicht mal eine Single.« (Als der König von Deutschland später in der Hitparade notiert wurde, rief Glueck ihn erneut an, um sich dazu gratulieren zu lassen.)
Bei CBS, der »family of music«, hatte er mehr Erfolg. Das Columbia-Label des Weltkonzerns, der nach dem Verkauf an einen japanischen Elektronikriesen in Sony Music umbenannt wurde, nahm ihn für drei Alben exklusiv unter Vertrag, mit der Option auf drei weitere. Andere Projekte wie die Aufnahmen einiger Cover-Versionen von Cher oder den Beach Boys, die er mit
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