Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr
Rio ist, eine feste Meinung zu haben«. Seine große Stärke war es, ein Publikum zu bedienen, Ideen auf den Punkt zu bringen, musikalische Entscheidungen zu treffen, doch Rio konnte auch ganz schwer Nein sagen. »Und wenn man das nicht kann«, so Kerschowski, »dann lebt man das Nein, legt sich ins Bett und ist nicht anwesend.«
Immer wieder kam es vor, dass Besucher ein paar Tage in Fresenhagen verbrachten, ohne ihn auch nur einmal zu Gesicht zu bekommen. Das erging nicht nur seinem Bruder Gert so, zu dem Lanrue eines Tages, als Rio sich wieder mal eingeschlossen hatte, sagte: »Ich sehe dich ja öfter, als ich Rio sehe.«
Immer wieder, und mit zunehmendem Alter auch immer öfter, zog er sich in sein Zimmer zurück, »um dort die Bibel zu lesen und mit sich ins Reine zu kommen«. Nähe empfand er bisweilen als Bedrohung und Gleichberechtigung als Anmaßung, und obwohl er eigentlich ein völlig normaler und unkomplizierter Typ war, konnte er, so Lutz Kerschowski, gleichzeitig »völlig gaga«, sowohl ein genialer Künstler als auch eine gescheiterte Existenz sein. Ähnlich wie Brian Wilson, der geniale, aber sehr leicht zerbrechliche und psychisch labile Kopf der Beach Boys, brauchte und fürchtete er den Ruhm. Oder wie es George Glueck ausdrückt: »Er suchte und scheute das Licht.«
1988 konnte davon aber noch nicht die Rede sein, suchte Rio das Licht noch mehr, als dass er es scheute. Um sein zweites Solo-Album zu promoten, ging er Ende Februar erneut auf Tour.
Die Band, die er dafür zusammenstellte, und mit der Lanrue das Programm einstudierte, war allerdings nicht mehr die alte. Rio verzichtete auf die Dienste von Martin Paul und Sievert Johannsen und heuerte stattdessen den Keyboarder Christian Schneider und den Gitarristen Manuel Lopez an, zwei so genannte Profis, von denen einer, Schneider, schon mal mit Westernhagen auf Tour gewesen war. Es war ein bunt zusammengewürfelter Haufen, der praktisch aus zwei Fraktionen bestand, was sich auch optisch auf der Bühne ausdrückte. Links von Rio und Toni Nissls Schlagzeug standen Lanrue und Jochen Hansen, rechts davon hampelten Schneider und Lopez rum, die Rio Reiser offenbar für einen Gute-Laune-Rocker hielten und dementsprechend auch vor den blödesten Posen nicht zurückscheuten. »Wir wurden nicht warm miteinander, das waren Welten zwischen uns«, erinnert sich Jochen Hansen. Lanrue habe immer öfter die Schultern gezuckt und gemurmelt, er sei hier ja nur der Gitarrist. Und Rio selbst fragte sich bisweilen auch, wenn er sich umdrehte und Christian Schneider grinsen sah, in welcher Band der eigentlich gerade spiele.
In Berlin trat die Rio-Reiser-Band im Juni beim Rock-Marathon vor dem Reichstag auf, allerdings nicht zusammen mit Michael Jackson, sondern einen Tag vorher, gemeinsam mit Udo Lindenberg, Nina Hagen und den Rainbirds, die mit Blueprint einen Riesenhit gelandet hatten und auch bei George Glueck unter Vertrag standen. Für den ehemaligen Scherben-Schlagzeuger Wolfgang Seidel bestand die Gruppe genau aus jenen bräsigen Muckern, »die sich immer über die Scherben, ihre scheinbare Unprofessionalität und ihren schlechten Sound lustig gemacht haben« und die jetzt »grinsend wie Honigkuchenpferde die Ernte von etwas« einfuhren, »das sie nicht gesät hatten«.
Zahlreiche Fans schwenkten Piratenflaggen und verlangten lautstark nach den alten Scherben-Songs, doch Rio sang ausschließlich Lieder seiner beiden Solo-LPs – als er im Herbst des Jahres dann solo im Tempodrom auftrat, spielte er nur die alten Lieder, obwohl das Publikum auch seine neuen Songs hören wollte.
Dafür freuten sich dann drei Schulklassen aus der DDR, die gerade auf Klassenfahrt waren, »den Arsch ab«, als Rio Reiser in einer Budapester Großraum-Disco vor 150 Leuten auftrat. Und auch bei einem SDAJ-Festival gegen das Wettrüsten, Apartheid und Arbeitslosigkeit war das Publikum aus dem Häuschen, als Rio bekannte: »Für mich ist es selbstverständlich, gegen Unterdrückung, Ausbeutung, Rassismus aufzutreten. Wie Menschen miteinander umgehen, ob der eine den anderen akzeptiert oder ausbeutet – da fängt doch jede Politik an.«
Der Auftritt blieb nicht folgenlos. Kurz darauf wurde Rio Reiser zu zwei Konzerten in die Ostberliner Werner-Seelenbinder-Halle eingeladen.
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