Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr
desillusionierten Kämpfers, der es trotzdem nicht schafft, »einfach zuzusehn, wie alles den Berg runtergeht«. Manager wurde allgemein als eine Art Liebeserklärung an George Glueck (miss-)verstanden, kann aber auch als ironischer Wink mit dem Zaunpfahl interpretiert werden, sich nicht wichtiger zu nehmen als den zu betreuenden Künstler. Mit Übers Meer , einem Lied, das er für seinen Onkel Robert geschrieben hatte, brachte Rio den Trennungsschmerz zweier Verliebter unübertroffen auf den Punkt; im stern verwahrte er, der die Alpen nie gemocht hat, sich aber gegen Leute, die den Song für ein unpolitisches Lied hielten: »Da kann ich nur sagen, hätten alle so eine sentimentale Beziehung zum Meer wie ich, würde keiner Dünnsäure in die Nordsee kippen.« Und Ich denk’ an dich war schließlich ein herrlicher Up-Tempo-Love-Song, den Rio später auch auf Italienisch sang und aufnahm.
Er wolle nicht »nach allen Seiten ausgewogene, abklopfbare Texte« machen, bekannte er in der Musik Szene . Die Kollegen Maahn, Niedecken und Grönemeyer kamen ihm »zu puritanisch« daher. Er hatte Schwierigkeiten »mit dem vordergründig Bedeutungsschwangeren, was dann beim zweiten Blick nicht immer so bedeutend ist«. Das würde einige zwar verwundern, weil er ja von einer Politband komme, aber gerade deswegen könne er es sich noch am ehesten leisten, so etwas zu sagen, ohne missverstanden zu werden. »Ich widerrufe ja auch nicht. Aber dieses Pop-Element, das Einfache, Unschwangere fehlt mir manchmal.«
Um die Platte zu promoten, wurde Rio von George Glueck auf die Internationale Funkausstellung in Berlin geschickt, wo er mit einer grauenhaften Playback-Band, der auch der bemitleidenswerte Lanrue angehörte, die Single Blinder Passagier gleich in mehreren Sendungen vorstellte, unter anderem in Thomas Gottschalks Na siehste . In einem P.I.T. Extra über deutsche Popmusik tauchte er neben Udo Lindenberg und Frank Farian, Drafi Deutscher und Peter Kraus, Sandra und Michel Cretu, Bap und Modern Talking auf und sagte über sich: »Eigentlich bin ich Optimist – ich rechne mit dem Schlimmsten.«
Viel schlimmer konnte es allerdings kaum noch kommen. Das Album landete trotz oder wegen dieser obskuren Auftritte, die eine einzige Zumutung für ihn waren, nur auf Platz 42 der Charts, und die gleichnamige Single schaffte es gar nur auf Platz 48. Und als er sich dann auch noch in der ZDF-Talkshow Live als Schwuler outete, soll sein Manager die Hände überm Kopf zusammengeschlagen haben, weil man jetzt nicht mehr die Käuferschicht der Schulmädchen erreichen könne. Für George Glueck ist das allerdings »wieder so eine Mär«. Dass Rio schwul war, sei »immer und jedem bekannt« gewesen. Glueck: »Ich hätte viele Gründe gehabt, so manches Mal die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen, aber nicht deswegen.«
Rio kam sich immer öfter »in diesem ganzen Business fehl am Platze« vor, wie ein »blinder Passagier« eben, der nicht weiß, »wohin die Reise geht«. In der Zeitschrift Musik Szene beschwerte er sich über »die vielen uninspirierten Small-Talks« und »Quickie-Interviews«, die nicht besonders interessant seien: »Seit zwei Jahren bin ich nun im Geschäft, und alle Leute nennen mich Musiker. Aber eigentlich bin ich eher eine angestellte Quasselstrippe. Zweieinhalb Monate bleiben für die Musik oder das Studio. Den Rest des Jahres quassel’ ich!«
Immerhin fand er noch Zeit, für das künstlerisch ambitionierte, unkommerzielle LP-Projekt Molto Stuhl einen Text von Ralf-Rainer Rygulla ( Furia color de amor ) zu singen und die Solo-LP seines Freundes Misha Schöneberg zu Ende zu produzieren, die aber ähnlich floppte wie seinerzeit Rios erste Produktion, das Album der Stricher.
Und auch politisch ergriff er wieder Partei. Aus Protest gegen die von Staatssekretär Peter Gauweiler ersonnenen Gesetzesvorhaben, die eine Kasernierung von Aids-Kranken vorsahen, und zum Leidwesen seiner Plattenfirma verkündete er, künftig den Freistaat Bayern nicht mehr betreten zu wollen. Aus Protest gegen eine Aids-Politik, die »widernatürliche Randgruppen« ausmerzen wollte, um den »normalen Bayern« zu schützen, schrieb er die Songs Normal und Bis ans Ende der Welt , den unsinnigen Boykott musste er allerdings nicht allzu lange durchhalten. Dadurch, dass Gauweiler als Staatssekretär abgelöst wurde, entfiel der Grund, dort nicht mehr aufzutreten, und er gastierte bereits im Frühjahr 1988 wieder in Kaufbeuren, Neumarkt und
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