Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr
oder 30 Jahren zum letzten Mal gestrichen worden, und das Inventar bestand aus einem Doppelstockbett, Tisch und Stuhl und Waschbecken. Dafür hatte das Klo eine »schöne fette Eichentür«.
Es war nachmittags um fünf, als Wolf und die anderen Gefangenen von der Schicht, in der sie Elektroschütze zusammengebaut hatten, in ihre Zellen zurückkehrten. Meistens durften sie dann bis zum Abendessen Radio hören, und manchmal war das dt 64, der Jugendsender der DDR, dem im Westen ein gewisser Ruf vorauseilte, weil er schon zu einer Zeit die Beatles oder die Kinks gespielt hatte, als man im Gebiet des Norddeutschen Rundfunks davon nicht zu träumen wagte.
Wolf war offiziell wegen der »Übermittlung von Nachrichten in den Westen, die nicht der Geheimhaltung unterlagen« zu einer Freiheitsstrafe von zweieinhalb Jahren verurteilt worden, saß aber eigentlich ein, weil er einen Ausreiseantrag gestellt und in einem besetzten Haus in Ostberlin gelebt hatte, in dem er auch festgenommen wurde. Zu allem Überfluss hatte er auch noch eine Woche vor seiner Verhaftung eine Frau aus Westberlin kennen gelernt und sich in sie verliebt. Er hatte keine Ahnung, was aus ihnen werden sollte, sie im freien Westen und er im Knast. Oder ob sie überhaupt auf ihn wartete. Die Dämmerung jenes Herbsttages ließ ihn alles nur noch verschwommener sehen. Und dann spielte dt 64 auf einmal ein Lied von Ton Steine Scherben – Halt dich an deiner Liebe fest .
Gleich nach dem ersten oder zweiten Refrain hallten Schreie durch die Zellen. Im Stockwerk über ihm fingen Gefangene an zu randalieren und schmissen Sachen gegen Fenster und Türen. Und Mike Wolf, der damals 20 Jahre alt war, spürte, wie ihm das Lied die Kraft gab, »das weiter durchzustehen und an die Frau noch zu glauben«.
Ein Jahr lang zehrte er von dem Lied, dann wurde er freigekauft und in den Westen abgeschoben. Gleich nach der Freilassung traf er seine große Liebe Gabi L. wieder, und sie verzehrten einander, wie er in dem O-Ton-Feature Scherben von Martina Groß und Andreas Hegelüken erzählte. »Im Endeffekt« dauerte ihre Beziehung zwar nur zwei, drei Wochen, doch das war nicht so wichtig. Für ihn zählten nur zwei Sachen: Dass sie wirklich genauso auf ihn gewartet hatte wie er auf sie. Und dass Rio ihn ermutigt hatte, daran zu glauben, als er sang: »Wenn niemand bei dir ist, und du denkst, dass keiner dich sucht, und du hast die Reise ins Jenseits vielleicht schon gebucht, und all die Lügen geben dir den Rest – halt dich an deiner Liebe fest.«
Rio Reiser hat wahrscheinlich nie erfahren, dass sein Lied im Bautzener Knast eine kleine Revolte ausgelöst hatte, aber er wusste, dass er auch jenseits der Mauer viele Fans hatte. Im Januar 1988 unterschrieb er einen offenen Brief an den Staatsratsvorsitzenden der DDR, Erich Honecker, der die sofortige Freilassung des inhaftierten Liedermachers Stephan Krawczyk forderte. Doch das wurde ihm seltsamerweise nicht angekreidet, als George Glueck im Sommer bei einem Rainbirds-Konzert in der Radrennbahn Weißensee erste Gespräche mit dem FDJ-Zentralrat über einen Auftritt Rios in der DDR führte. Dabei hatten die Staatssozialisten in der Regel mehr Angst vor Linksabweichlern von seinem Schlage gehabt als vor dem Klassenfeind.
In der DDR existierte damals bereits eine »ziemlich starke Frustbewegung«, die mit Hilfe von Bryan Adams und Bob Dylan besänftigt werden sollte, ja, man plante sogar eine Neuauflage des legendären Woodstock-Festivals. Die Vorgruppen, allesamt populäre DDR-Bands, waren allerdings ausgebuht und mit Bockwürsten und Milchtüten beworfen worden, weil das Publikum mit diesem Staat nichts mehr zu tun haben wollte und alle über einen Kamm scherte, die mit ihm irgendwie zusammenarbeiteten. Dem FDJ-Zentralrat wurde die Angelegenheit deshalb zu heiß, und er überließ die Ausführung Rainer Börner von der Berliner FDJ-Sektion.
Börner stammte aus der Thüringer Bluesszene und kannte Ton Steine Scherben, die im Westen ja nicht im Radio gespielt wurden, lediglich von Kassetten, die privat kopiert wurden und im DDR-Underground kursierten. Aber auch Rios Solo-Alben wurden im Osten viel positiver aufgenommen als im Westen, und sein Blinder Passagier traf den Nerv und das Lebensgefühl der DDR-Jugend – »als wenn er das für uns geschrieben hätte«.
Als Kooperationspartner konnte Börner dt 64, den Jugendfunk der DDR, gewinnen, der die beiden Konzerte am 2. und 3. Oktober 1988 in der Ostberliner
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