Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr
München.
Zu einer denkwürdigen Begegnung kam es auf dem Offenbacher Parteitag der Grünen, wo er den alten Scherben-Hit Der Traum ist aus sang. Direkt vor ihm war Otto Schily aufgetreten, der Klavier gespielt und versprochen hatte: »Wenn die Grünen irgendwann in die Regierung kommen, werden wir dafür sorgen, dass bei künftigen Staatsbesuchen nicht mehr eine Militärkapelle spielt, sondern Bap oder Rio Reiser.« Es ist nicht bekannt, dass dieses Versprechen je eingelöst wurde, weder vom Innenminister Schily noch vom Außenminister Joschka Fischer, in dessen Frankfurter Wohngemeinschaft die Scherben einst übernachtet hatten.
24 Wohin gehn wir
Zu Gast beim TV-Magazin 45 Fieber, wurde Rio von der Moderatorin Christiane Jontza 1987 damit konfrontiert, was ein Astrologe im Auftrag der Redaktion über sein Tierkreiszeichen – Steinbock, Aszendent Löwe – zu sagen hatte. Danach sei er individuell ausgerichtet und besitze eine magnetische Wirkung auf andere, verunsichere die aber mit seiner unkonventionellen Art. Als verantwortungsbewusste Persönlichkeit lege er Wert auf Sicherheit und Beständigkeit im Berufsleben und auf Freiheit, Unabhängigkeit und Distanz im Gefühlsleben.
Freundschaften bedeuteten ihm ebenso viel wie Liebesbeziehungen, und mit seinen ungewohnt neuen Ansichten über Beziehungen fühle er sich von Leuten angezogen, die ausgefallen, unangepasst und exzentrisch seien. Er selbst sei hingegen launisch, besitze Fähigkeiten auf dem Gebiet der Sprache und sei nicht an Kleinigkeiten interessiert – die überlasse er gerne anderen. Als schlagfertiger Gesprächspartner sage er deutlich seine Meinung, Zustimmung bedeute ihm aber sehr viel.
Rio fühlte sich »absolut erkannt«, doch das half ihm auch nicht weiter. Als Steinbock war er ein schwieriger Charakter, der, wie schon Kai Sichtermann beobachtete, den Hang hatte, »mit dem Kopf durch die Wand zu gehen und bis zur Selbstzerstörung mit der Welt zu hadern«. Wenn ihn etwas nervte, konnte er »ausrasten« oder gegenüber Leuten, »die unsicher waren, Angst vor ihm hatten« oder ihm zu viel Respekt erwiesen, »sehr verletzend werden«. Er flippte schon mal völlig aus und zerriss vor Wut ein Telefonbuch, wenn er die Adresse eines Hotels, in dem man ein Zimmer für ihn reserviert hatte, in Fresenhagen vergessen hatte und nun am falschen Ort stand. Oder er begoss den Herausgeber des Rock-Kalenders mit Bier, weil der sein Geburtsdatum nicht darin vermerkt hatte.
Schon als Kind war er an der Nase immer gelb geworden, wenn er sich über etwas ärgerte, erinnert sich sein Bruder Gert, und selbst mit seiner Mutter fing er gezielt Streit an, als die ihm später, zum 20. Jahrestag des Umzugs nach Fresenhagen, nicht die gewünschte Champagnermarke – »Veuve Clicquot« – mitbrachte, sondern irgendeine andere.
In Fresenhagen war er ob seiner Tobsuchtsanfälle gefürchtet, und man ging ihm dann nach Möglichkeit aus dem Weg. Einfach mit ihm über ein Problem zu reden, um es so aus der Welt zu schaffen, diese Form der Unterhaltung gab es mit ihm nur selten. Und auch er konnte Probleme nicht direkt ansprechen, sondern glaubte immer, alle würden schon wissen, was er wolle, und sich dementsprechend verhalten.
Laut Misha Schöneberg hatte Rio »ein fürchterlich kleines Ich, das herrschen musste, um sich groß zu fühlen. Und er hatte eine der lächerlichsten aller Kunstauffassungen überhaupt: diesen Genie- und Leidenskult.« Indem er dafür sorgte, dass seine Liebsten in der Hölle schmorten, habe er sich sein Leiden selbst geschaffen: »Und dann bringt ER, ER, ER, der Künstler, dieses Leiden auf die Bühne.«
Für Rio sei Kunst eine andere Form des Lebens gewesen, eine Überlebensform, der alles untergeordnet war. Er brauchte wohl das Leiden und den Streit als Motor für seine Kreativität, glaubt auch Kai Sichtermann. Wenn ihm etwas gegen den Strich ging, schloss er sich schlecht gelaunt tagelang ein und ließ niemanden an sich ran. Selbst Freunde und Verwandte mussten dann abgewimmelt werden, und als Heike Makatsch ihn in den neunziger Jahren in Fresenhagen besuchte, um ihn für die Bravo zu interviewen, da ließ er sie erst einmal einen Tag lang warten, bevor er ihr die kalte Schulter zeigte und zu verstehen gab: Ich bin hier der Künstler. Was willst du eigentlich von mir?
»Das Gegenteil von Rio«, sagt Lutz Kerschowski, der in seinen letzten Jahren sehr eng mit ihm befreundet war und Lanrue an der Gitarre abgelöst hatte, »das Gegenteil von
Weitere Kostenlose Bücher