Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr
Ägypter , einem Roman, der im vorchristlichen Orient spielt. Herbst stammte noch aus dem Jahr 1972, war textlich aber leicht überarbeitet worden. Geld war ein Bänkelgesang mit einem hochaktuellen Text, den es auch in einer »extended version« als »Valuta-Mix« gab, und 4 Wände ein äußerst sparsam instrumentiertes und genial minimal arrangiertes Lied, das später von der Komikerin Marlene Jaschke in ihr Live-Programm Verflixt noch mal übernommen wurde. Den Text von Zauberland hatte Rios Freund Misha Schöneberg geschrieben, der am 9. November 1989 in Fresenhagen ausgezogen war. Die Brüder hatten Rio für den Text gelobt, den George Glueck laut Schöneberg bereits auf Rios zweitem Album veröffentlichen wollte. Man hatte sogar über eine deutsche Version von Julio Iglesias gewitzelt, doch Rio war seinerzeit gekränkt gewesen, weil so viel Aufhebens um das Lied gemacht wurde. Und aus Gründen, die Schöneberg im dunklen Bereich von Rios Seele ansiedelt, war der Song zunächst liegen geblieben. Als er nun nach der Wende erschien, wurde er prompt als Abgesang auf ein Zauberland namens DDR interpretiert, zumal das Video dazu Breschnew und Honecker beim Bruderkuss zeigte, doch gemeint war ein anderes Zauberland, das abgebrannt war – der Traum von Liebe in der Freien Republik Fresenhagen.
Das Album erschien zeitgleich in West und Ost, beim Plattenkonzern CBS, der soeben vom japanischen Elektronikriesen Sony übernommen worden war, und dem VEB Deutsche Schallplatte, wo vor der Wende bereits eine LP mit den Titeln Alles Lüge , Junimond , König von Deutschland und Blinder Passagier erschienen war.
Anfang 1990 hatte Rio bereits während der Tage der Jugend im Palast (der Republik) ein Konzert gegeben, bei dem er von der Ostberliner Rockband Pankow begleitet wurde; die Zeitschrift melodie und rhythmus bemängelte später, dass bei dem »Nummernkonzert«, in dessen Rahmen auch Ost-Künstler wie Karussell, Anett Kölpin, Hansi Biebl und Die Zöllner auftraten, »das Gefühl füreinander nicht so recht entstehen wollte«. Anlässlich der Veröffentlichung der »von der international renommierten Firma CBS gepressten Scheibe« trat Rio nun sogar in einem Löwenkäfig auf.
Gut gebrüllt, Löwe hieß das Talk & Show-Programm im Zirkus Busch, der seine Zelte inmitten einer Neubausiedlung am Stadtrand Berlins, in Hellersdorf, aufgeschlagen hatte. Vor dem Eingang warben Westberliner Krämerseelen für »optimalen Versicherungsschutz« und »moderne Bürotechnik«. Ein »Florida-Experte« verloste eine Reise ins Glück, und als Moderator mühte sich ein Redakteur vom Sender Freies Berlin ab, dessen belanglose Plaudereien kaum einen Unterschied zwischen west- und ostdeutscher Unterhaltungskunst erkennen ließen. Ebenfalls mit von der Partie: Lutz Heßlich, ein flott gekleideter Radweltmeister aus der DDR, und ein verglühender West-Stern, Evelyn Künneke, die im Rolls-Royce vorgefahren kam und auch gleich klar machte, worum es hier ging: »Reißt euch zusammen und fallt nicht gleich in Ohnmacht, hier kommt Deutschlands heißeste Oma!«
Das war der Rahmen für die erste zeitgleiche Lizenzausgabe einer West-Platte hinter dem ehemals Eisernen Vorhang. Rio hätte so lange spielen können, wie es die Löwen aushalten, doch dann begnügte er sich, ganz Tierfreund, mit einer einzigen Ballade – sehr zum Leidwesen der sogar aus Potsdam angereisten Fans, die ihn anschließend mit Fragen löcherten.
Rio über seine DDR-Fans: »Die sind wesentlich besser informiert. Ich erhalte zum Beispiel Briefe, da frage ich mich: Haben die irgendwelche Stasi-Akten gefunden? Du hast doch mal auf einem Demo-Tape Sympathy For The Devil gesungen – das muss 1971 oder’72 gewesen sein. Woher weiß ein 15-Jähriger aus der DDR, dass es so eine Aufnahme gibt?«
Aber auch wenn die Fragen nicht so weit zurückreichten, fühlte er sich in der DDR besser wahrgenommen als in der BRD, weshalb er sogar bei einem Rosa-Luxemburg-Aktionstag der SED-Nachfolgepartei PDS auftrat – aus Sympathie für Gregor Gysi, der ein »vernünftiger Politiker« sei und »den Mut hat, bestimmte Sachen zu sagen«. Gysi bedankte sich später für die unvorhergesehene Wahlkampfhilfe und bestellte auch gleich ein Exemplar der neuen LP. »Selbstverständlich«, schrieb der PDS-Vorsitzende, würde er sie auch »in D-Mark« bezahlen.
Rios Album kam in der DDR in einer »Erstauflage« von 150 000 Stück in die Läden, zum Preis von 16,10 Ost-Mark, und war schnell vergriffen: Heute
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