Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr
dass Rios Manager George Glueck sich bei einem Meeting einfach im Chefsessel des Sony-Geschäftsführers Jochen Leuschner niederließ, alle Fäden in die Hand nahm und eine Verkaufsstrategie entwickelte.
Das Cover, für das Gert Möbius Rio in seinem Haus in Ligurien beim Pendeln fotografierte, wurde von der Grafikabteilung der Sony allerdings »völlig verhunzt«, und bisweilen hatte Rios Bruder Peter, der den Text zu Jetzt schlägt’s dreizehn geschrieben hatte, den Eindruck, dass ein Sony-Mitarbeiter nicht wisse, was sein Kollege im Zimmer nebenan treibe. Mit einem solchen Chaos hatte er bei einer Firma wie Sony nicht gerechnet.
(Der Eindruck trog nicht. 1987 waren im Hause Sony beispielsweise gleich zwei Alben unter dem Titel Blinder Passagier erschienen – eins von Rio und eins von Herwig Mitteregger.)
Rio hätte ein neues Image benötigt, wie es Lou Reed, Iggy Pop oder Keith Richards hatten, eins, das ihn als reifen Künstler zeigte und nicht als König von Deutschland , glaubt Lutz Kerschowski. Stattdessen wurden Interviews mit irgendwelchen unbedarften Pop-Redakteuren vereinbart, die ihn, der soeben mit seinem PDS-Beitritt für Schlagzeilen gesorgt hatte, allen Ernstes fragten, ob er denn noch »politisch« sei.
Als Corny Littmann ihn anlässlich eines Solo-Auftritts in der Mitternachts-Show des Hamburger »Schmidt«-Theaters im November 1991 traf, sah Rio so schlecht und fertig aus wie nie zuvor. Das Album war gefloppt, von seinem Freund Misha Schöneberg hatte er sich nach einem langen und für beide Seiten qualvollen Beziehungsstress endgültig getrennt, und er hatte bereits getrunken, als er im »Schmidt’s« auftauchte. Littmann machte sich Sorgen um den Freund und nahm ihn nach der Sendung beiseite: »Jetzt suchen wir einen Kerl für dich.«
In der Exklusiv-Bar des Hotel Florida stellte er ihm einen gewissen Niels Braasch vor, der ihn später, als Rio bereits hackevoll war, ins Hotel brachte. Als er sich am nächsten Tag nach Rios Wohlbefinden erkundigte, staunte Littmann nicht schlecht. Die beiden hatten sich total ineinander verknallt und beschlossen, noch am selben Tag nach Florida zu fliegen.
Am Montag darauf stand sein Telefon nicht mehr still. »Das heterosexuelle Musikbusiness war in heller Aufregung.« Rio hatte einen Auftritt in Holgers Waschsalon sausen lassen und war einfach verschwunden. Durchgebrannt. Endlich mal. Littmann: »Das hätte er schon zehn Jahre früher mal machen sollen: sich verweigern und sagen, ich habe jetzt einen Typen, und mit dem haue ich jetzt ab, und ihr könnt mich alle mal.«
Rio hatte sich nie in schwulen Kreisen bewegt, nie einen Gay Guide mit auf Tour genommen oder sich erkundigt, wo sich denn Schwule treffen würden. »Wenn er nicht so schüchtern und verklemmt und unsicher gewesen wäre, wäre er der prädestinierte Freier gewesen, der in Stricher-Kneipen geht und sich die jungen Prolls rausholt.« Stattdessen habe er seine Freunde bemuttert und gefördert, wo und wie er nur konnte.
Er hatte nie verheimlicht, dass er schwul war, es aber auch nicht allzu wichtig gefunden, dass jeder wusste, worum es im Song Komm schlaf bei mir ging – um einen Jungen und nicht um ein Mädchen. Er war nicht rumgerannt und hatte gebrüllt »Ey, sag mal, Alter, weißt du auch, dass ich schwul bin«. Das sei nicht sein »Ding« gewesen, erzählte er 1994 im Zitty -Interview. Anfangs habe es auch »böses Blut« gegeben, »denn Schwulsein galt als dekadent und unproletarisch«.
Später, Ende der siebziger Jahre, als es in Teilen der alternativen Szene »in« war, schwul zu sein oder es wenigstens mal mit einem Mann zu probieren, hatte er mit seinem Freund Thomas Müller in der Belziger Straße in Berlin-Schöneberg zusammengelebt, gleich nebenan hatte »der Zensor« seinen Plattenladen eröffnet. Müller wird als »frech, verrotzt, vergaunert, aber geil« beschrieben und sei seinem »Beuteschema« am nächsten gekommen. Mit Romantik hatte das nichts zu tun, es ging nicht darum, zusammen alt zu werden, sondern seine Sexualität auszuleben. Und das hatte er bis dahin, so Misha Schöneberg, der in den achtziger Jahren »Momente interstellarer Geborgenheit« mit ihm erlebte, viel zu selten getan.
Seinem Umfeld war das mitunter suspekt vorgekommen, dass Rio stets Beziehungen zu Männern hatte, die jünger als er waren. Er war deshalb manchmal schräg angeguckt worden, dabei war das in der Musikszene nicht unüblich, wie so manches, allerdings extreme, Beispiel zeigt: Jerry Lee
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