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Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr

Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr

Titel: Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hollow Skai
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politischen und Lebenspraxis« polemisiert, die immer mehr in Vergessenheit gerate. Ein großer Teil der Band kooperiere mit Rios Erben, weil sie »auf der Seite vom Brot« seien, »wo die Butter ist«.
    Um sein rigides Festhalten an Positionen aus der Anfangszeit der Scherben untermauern zu können, erweckte er den Eindruck, in Kontakt mit Lanrue zu stehen (der das bestreitet). Der habe nach Auseinandersetzungen mit Rios Erben Fresenhagen verlassen und lebe nun in Portugal in einem Wohnwagen. So bleibe schließlich von Rio und den Scherben nur »eine von jedem Kontext befreite und in alle Richtungen verkäufliche rebellische Pose« übrig, »die wahlweise den Narren am Hofe von Rot-Grün, den Soundtrack für eine NPD-Demo oder einfach nur das Sedativum fürs ungestörte Träumen« abgebe.
    Schwenkte Seidel die rote Fahne, als stünde die Revolution noch immer vor der Tür, um die Scherben in einen Kontext einzubinden, den sie aus freien Stücken und nach schmerzlichen Erfahrungen freiwillig verlassen hatten, schüttete Hartwig Vens das Kind gleich mit dem Bade aus. Die meisten seiner Solo-Alben waren für ihn »zu Recht vergessener Synthienippes« eines aus einem künstlerischen Kollektiv herausgelösten Solitärs. Unter der Überschrift Wenn ich Führer von Deutschland wär behauptete er im Januar 2004 in konkret gar, Rio habe den »Bruch mit den ›kleinen Leuten‹ nicht vollziehen« wollen, »auch wenn sie dem rechten Mob applaudierten«. In einem Beitrag für Seidels Textsammlung zur »Musik, Politik und Wirkung der Ton Steine Scherben« tönte er im Jahr darauf, Reisers Sprache sei in seiner »umgangssprachlichen Filterlosigkeit und Antiintellektualität nicht ohne hohle Phrasen« gewesen. Das »Volk« habe er als »antagonistische Instanz zur herrschenden Klasse« begriffen, und es sei für ihn »eine revolutionäre, keine bürgerlich-demokratische, eine soziale, keine ethnische Kategorie« gewesen. Vens schloss daraus, dass eine »unmittelbare Verständlichkeit« zwangsläufig »eine Annäherung ans Volkstümliche« bedeute, damit er Reiser wenigstens postum unterstellen konnte, sich vom »Leadsänger der revolutionären Agit-Rock-Band« zum deutschen Grübler mit Tendenz zum Fascho-Blatt Junge Freiheit gewandelt zu haben. Das kam einem glatten Rufmord gleich; mit der Annahme, diese Wandlung sei im Kern bereits in der Scherben-Ära angelegt gewesen, führte er aber auch noch Seidels Argumentation ad absurdum, der ja gerade darauf beharrt, dass die bösen Möbius-Brüder die kollektive Leistung der Scherben herabgewürdigt hätten, um Rio als Genie und Wunderkind darstellen zu können.
    Nicht nur in Fresenhagen scheinen die Uhren anders zu gehen, auch in Wolfgang Seidels Welt ticken sie nicht mehr richtig. Dort werden, viel zu spät und deshalb zunächst unverständig, plötzlich Diskussionen wie in den frühen Siebzigern geführt, als manch einer sein Heil in einer stalinistischen Kaderpartei suchte.
    Da war Rio wirklich schon weiter. »Verändern tut sich jeder«, hatte Rio in einem seiner letzten Interviews 1996 festgestellt. Trotzdem kreise man immer um die gleichen Themen, und die Parolen und Ziele seien die gleichen geblieben. »Meine Sicht der Welt hat sich nicht verändert. Ich bin keinen Millimeter angepasster als früher.«
    Er, der »auch ein Telefonbuch heruntersingen und dabei noch den Eindruck von Poesie vermitteln konnte«, war 1988 von der taz gelobt worden, weil er der Einzige sei, »der über die ganz große Liebe, den brennenden Hass, das Steineschmeißen und die Sehnsucht singen kann, ohne zu lügen«, und seine Küsse so schmeckten, »wie das Taj Mahal im Mondschein aussieht«. Und fünf Jahre später hatte Ulla Meinecke in einem Radio-Beitrag über Die Message-Macher bemerkt, er könne »Rehe und Hasen und schlafende Blumen und Stammheim in einem Lied vorkommen lassen«, ohne dass daraus ein »Papiertiger« werde. Nun, da er sich nicht mehr wehren konnte, waren jedoch Tür und Tor der Denunziation geöffnet. »Als Texter«, meinte ausgerechnet der Vielschreiber Gerhard Henschel 1999 in der Zeitschrift konkret , sei er »leider nur selten über das Niveau eines bemühten Konfirmationsschülers hinausgelangt«. Und Wolfgang Seidel, der ohne Rio längst in Vergessenheit geraten wäre, bezeichnete die Lieder aus seiner späten Solozeit gar als Nägel zu seinem Sarg.
    Da ist Heinz Rudolf Kunze doch aus einem ganz anderen Holz geschnitzt. Der wartete nicht ab, bis Rio unter der Erde lag,

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