Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr
Silben stets falsch betont. Auf einen Gewinner konnte sich die wieder mal hochkarätig besetzte Jury nicht entscheiden, so dass der »Förderpreis« unter den Gruppen Juli und SPN-X sowie dem Solokünstler Werner Bettge aufgeteilt wurde. Als Juli im Jahr darauf mit dem Song Perfekte Welle einen Riesenhit hatte, wurde aber der Eindruck erweckt, die Gießener Gruppe um die Sängerin Eva Briegel verdanke ihren Erfolg der Teilnahme am Songpreis 2003.
Auch sonst hatte der Verein bislang kein besonders gutes Händchen bei der Organisation seiner Veranstaltungen – vom Comeback-Konzert der Scherben-Family im August 2005 einmal abgesehen. Ein direkt neben dem Rio Reiser Haus stattfindendes Open-Air-Festival, auf dem neben der NDW-Band Die Fehlfarben und der obligatorischen Marianne Rosenberg auch die Nummer-1-Band Söhne Mannheims auftrat, produzierte rote Zahlen im fünfstelligen Bereich, weil es dilettantisch organisiert wurde, die Zufahrtstraße total verstopft war und ein Großteil des erwarteten Publikums das Festivalgelände gar nicht erst erreichte. Immerhin wurde so die Tradition gewahrt, hatten sich doch auch die Scherben einst organisatorisch oft übernommen und hoch verschuldet.
Allein die Veröffentlichungen des Rio-Reiser-Archivs auf dem familieneigenen Label Möbius Rekords – man beachte die denglische Schreibweise – wurden mit der nötigen Hingabe und Sorgfalt produziert, die sogar die Junge Welt überzeugte: »18 Lieder aus seinem Nachlass, alle unveröffentlicht und alle derart großartig, dass man sich sofort fragt, was die Leute eigentlich an Elvis finden.« Das Album Am Piano , das Rio als »lebende Musicbox« zeigte (und zwar als eine, die er auch sein wollte!), war nicht nur für den Junge Welt -Rezensenten Christof Meueler »die Platte des Jahres«, die jeder kaufen sollte, »der noch nicht gestorben« war. »Kurioserweise« erwirkte der Karl-May-Verlag Bamberg im April 1999 aber eine einstweilige Verfügung, weil das CD-Cover eine traditionelle Karl-May-Ausgabe kopiert habe. Dabei hatte der Verlag, »der von der Affinität Rios zu Karl May scheinbar wusste«, noch kurz zuvor Gert Möbius zur »Scharlih-Verleihung« an Pierre Brice in Bad Segeberg eingeladen. Aus Sorge um den »wettbewerbsrechtlichen Besitzstand der grünen Karl-May-Bände« verlangte Verleger Lothar Schmid eine dreiprozentige Beteiligung an jeder verkauften CD. Möbius lehnte dies zunächst empört ab: »Erst wollen Sie sich beschweren, und dann wollen Sie mitverdienen.« Letztlich kam er allerdings nicht drum herum, ihn zu beteiligen. Um zu unterstreichen, dass man die Rio-Reiser-CD und einen Karl-May-Band sehr wohl miteinander verwechseln könne, hatte Schmid auf eine – zu diesem Anlass produzierte? – CD mit Kompositionen Karl Mays hingewiesen und war damit vor Gericht durchgekommen.
Das von der Sony noch zu Rios Lebzeiten aus dem Katalog gestrichene Album Himmel & Hölle wurde von Möbius Rekords ebenso wieder veröffentlicht wie die beiden Kinderplatten der Scherben. Und mit der Doppel-CD und DVD live in der Seelenbinder-Halle gelang dem Rio-Reiser-Archiv gar ein kleiner Coup, mit dem niemand gerechnet hatte.
Mit einem solchen Konzertmitschnitt konnten die Fernsehsender aus dem freien Westen nicht aufwarten. Dort hatte man Rio erbarmungslos durch das Formatfernsehen gejagt – was er anfangs vielleicht sogar gewollt hatte, mit der Zeit aber immer unwilliger mitmachte. Ähnlich wie seinem Vater, war es auch ihm schwer gefallen, sich in »seiner« Firma durchzusetzen und Karriere zu machen. Das hatte er nie gelernt, und am Ende war er dazu wohl auch nicht mehr in der Lage gewesen.
Die Aufnahmen aus dem Ostberlin der Vor-Wende-Zeit zeigen dagegen, wie euphorisch Rio in der DDR wahrgenommen wurde, wie verdammt gut er war, wenn er nicht vor einem ihm fremden Publikum auftreten musste, sondern ein Heimspiel hatte, und dass er noch immer jeden an die Wand singen konnte, wie zu Beginn der Scherben-Ära oder auf ihrem musikalischen Höhepunkt 1982. In schlechter Verfassung zerriss er vor Wut schon mal ein Telefonbuch, in der Werner-Seelenbinder-Halle hätte er Albrecht Koch aber auch daraus vorsingen können.
Als die reformierte David Volksmund Produktion im Januar 2005 ankündigte, die alten, schlecht produzierten Scherben-Alben von Udo Arndt neu abmischen zu lassen – so weit dies überhaupt noch möglich ist, und zur besseren Anschauung 18 Songs aus 15 Jahren veröffentlichte, schossen die Emotionen allerdings ins Kraut.
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