Ripley’s Game oder Der amerikanische Freund
erschöpft? Doch das Gefühl war eher im Kopf als im Körper. Er war froh, als das Licht gelöscht war und in Simones Armen die Anspannung von ihm abfiel. So lagen sie immer, bevor sie einschliefen, die Arme umeinander geschlungen. Er dachte an Stephen Wister (oder wie immer er wirklich hieß), der vielleicht jetzt gerade gen Osten flog, die schlaksige Gestalt in den Flugzeugsitz gegossen. Er sah sein verstörtes, angespanntes Gesicht vor sich, die rötliche Narbe, aber Wister dachte sicher nicht mehr an Jonathan Trevanny, sondern an jemand anderen. Bestimmt hatte er etliche weitere Kandidaten in petto.
Der Morgen war kalt und neblig. Kurz nach acht ging Simone mit Georges zum Kindergarten, während sich Jonathan in der Küche die Hände an einer zweiten Schale Milchkaffee wärmte. Die Heizung funktionierte nicht richtig. Sie hatten auch diesen Winter mit einigen [74] Unannehmlichkeiten überstanden, doch selbst im Frühjahr war das Haus morgens manchmal kalt. Den Ölofen hatten sie beim Kauf des Hauses übernommen; er reichte für die fünf Heizkörper im Erdgeschoß, nicht aber für die weiteren fünf, die sie hoffnungsvoll im ersten Stock hatten einbauen lassen. Sie waren gewarnt worden, aber ein größerer Ofen hätte dreitausend neue Franc gekostet, und das Geld hatten sie damals nicht gehabt.
Drei Briefe lagen unter dem Schlitz in der Haustür. Einer enthielt die Stromrechnung. Den nächsten, einen weißen, quadratischen Umschlag, drehte Jonathan um und las auf der Rückseite: Hôtel de l’Aigle Noir. Er öffnete ihn, eine Visitenkarte fiel heraus. Jonathan hob sie auf. »Stephen Wister, c/o« stand da, handschriftlich eingefügt über dem Aufdruck:
Reeves Minot
Agnesstraße 159
Winterhude a. d. Alster
Hamburg 56
629-6757
Da war auch ein Brief:
1. April, 19–
Lieber Mr. Trevanny,
schade, daß ich bis heute nachmittag nichts von Ihnen gehört habe. Für den Fall, daß Sie Ihre Meinung ändern sollten, lege ich eine Karte mit meiner Hamburger Adresse bei. Sollten Sie es sich also anders überlegen, [75] dann rufen Sie mich bitte jederzeit mit R-Gespräch an. Oder kommen Sie nach Hamburg, und wir reden darüber. Das Geld für Hin- und Rückflug kann ich Ihnen anweisen, sobald ich von Ihnen höre.
Wäre es nicht sowieso eine gute Idee, wegen Ihrer Beschwerden in Hamburg einen Spezialisten aufzusuchen und eine zweite Meinung einzuholen? Vielleicht ist Ihnen dann wohler.
Sonntag abend kehre ich nach Hamburg zurück.
Mit freundlichen Grüßen,
Ihr Stephen Wister
Jonathan war überrascht, amüsiert und verärgert, alles auf einmal. Das mit dem »wohler fühlen« war komisch, denn schließlich ging Wister davon aus, daß er bald sterben werde. Falls nun ein Hamburger Hämatologe sagte: »Ach ja, übrigens bleiben Ihnen nur noch ein, zwei Monate« – wäre ihm dann wohler? Jonathan steckte Brief und Visitenkarte in die Gesäßtasche seiner Hose. Einmal gratis nach Hamburg und zurück. Wister ließ auch nichts unversucht, ihn zu locken. Merkwürdig, daß der Brief am Samstag nachmittag abgeschickt worden war, so daß er am Montag morgen ankommen mußte – Jonathan hätte Wister doch am Sonntag noch jederzeit anrufen können. Aber sonntags wurden die Briefkästen in Fontainebleau nicht geleert.
Acht Minuten vor neun. Was war zu tun? Er brauchte Karton für Passepartouts von einer Firma in Melun, dann mußte er mindestens zwei Kunden eine Postkarte schikken, deren Bilder seit mehr als einer Woche fertig waren. Für gewöhnlich ging Jonathan auch montags ins Geschäft [76] und arbeitete ab, was sonst liegenblieb, hielt aber den Laden geschlossen, weil laut französischem Gesetz kein Geschäft an mehr als fünf Tagen in der Woche geöffnet sein durfte.
Um Viertel nach neun war Jonathan im Laden. Er zog die grüne Jalousie an der Tür auf und schloß hinter sich zu. Das Schild ließ er auf FERMÉ . Er erledigte Kleinigkeiten, in Gedanken immer noch bei der Reise nach Hamburg: Vielleicht keine schlechte Idee, einen deutschen Facharzt zu Rate zu ziehen. Vor zwei Jahren hatte er in London einen Hämatologen aufgesucht. Dessen Befund war nicht anders ausgefallen als der französische und hatte Jonathan überzeugt, daß die Diagnosen stimmten. Vielleicht waren die Deutschen ja ein bißchen gründlicher und fortschrittlicher? Mal angenommen, er nähme Wisters Angebot einer Reise nach Hamburg an, was dann? (Jonathan adressierte gerade eine Karte an einen Kunden.) Allerdings stünde er damit in
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