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Ripley’s Game oder Der amerikanische Freund

Ripley’s Game oder Der amerikanische Freund

Titel: Ripley’s Game oder Der amerikanische Freund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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nach neun rief Minot Jonathan im Hotel an: Karl werde ihn um zwanzig vor elf abholen und zum Krankenhaus fahren. Rudolf werde mitkommen. Was Jonathan nicht überraschte.
    »Viel Glück«, sagte Reeves. »Bis später.«
    Jonathan saß unten in der Hotelhalle und las die Londoner Times, als Rudolf hereinkam, einige Minuten zu früh. Rudolf lächelte sein verschüchtertes Mäuselächeln, Kafka ähnlicher denn je.
    »Guten Morgen, Herr Trevanny«, sagte er.
    Rudolf und Jonathan setzten sich in den Fond des großen Wagens.
    »Viel Glück mit dem Befund«, sagte Rudolf liebenswürdig.
    »Ich möchte auch noch mit dem Doktor sprechen«, gab Jonathan ebenso liebenswürdig zurück.
    Er war überzeugt, daß Rudolf ihn verstanden hatte, obgleich dieser nun etwas verunsichert wirkte und auf deutsch antwortete: »Wir werden versuchen…«
    Jonathan begleitete Rudolf ins Krankenhaus, obwohl dieser gesagt hatte, er könne den Befund abholen und auch fragen, ob der Arzt Zeit habe. Karl hatte übersetzt, so daß Jonathan alles verstanden hatte. Karl schien neutral zu sein, [102]  dachte Jonathan, und war es wahrscheinlich auch. Aber irgend etwas kam ihm seltsam vor, so als spiele jeder eine Rolle, sogar er selber, und zwar schlecht. In der Eingangshalle sprach Rudolf mit einer Krankenschwester, die an der Anmeldung hinter einem Schreibtisch saß, und fragte nach dem Arztbrief für Herrn Trevanny.
    Die Schwester sah in einem Kasten voll verschieden großer Briefumschläge nach und zog einen Umschlag im Format eines Geschäftsbriefs hervor, auf dem Jonathans Name stand.
    »Und Dr.   Wentzel? Könnte ich ihn sprechen?« fragte Jonathan.
    »Dr.   Wentzel?« Die Schwester sah in einem Ordner mit Klarsichtreitern nach, drückte auf einen Knopf und hob den Telefonhörer ab. Nach ein paar Sätzen auf deutsch legte sie wieder auf und sagte auf englisch zu Jonathan: »Dr.   Wentzel hat heute den ganzen Tag keine Zeit, sagt seine Stationsschwester. Wollen Sie einen Termin für morgen vormittag, zehn Uhr dreißig?«
    »Ja, bitte«, erwiderte Jonathan.
    »Gut, ich merke Sie vor. Aber die Schwester sagt, Sie würden in dem Bericht schon viele… Informationen finden.«
    Jonathan ging mit Rudolf zum Wagen zurück. War Rudolf enttäuscht oder bildete er sich das nur ein? Wie dem auch sei, Jonathan hielt den dicken Umschlag in der Hand, den echten Bericht.
    Im Wagen sagte Jonathan zu Rudolf: »Sie entschuldigen?« und öffnete den Umschlag: drei maschinengeschriebene Seiten. Jonathan sah auf den ersten Blick, daß viele [103]  Wörter mit den ihm vertrauten französischen und englischen Fachausdrücken übereinstimmten. Die letzte Seite dagegen bestand aus zwei langen Absätzen auf deutsch, darunter dasselbe lange Wort für diese Unterart der weißen Blutkörperchen. Jonathan stockte das Herz, als er las: »Leukozyten: 210.000«, höher als im letzten französischen Befund und höher als je zuvor. Er gab sich keine Mühe, weiterzulesen. Während er die Blätter wieder zusammenfaltete, sagte Rudolf ein paar höfliche Worte zu ihm, streckte die Hand aus, und Jonathan reichte ihm den Bericht, ungern zwar, doch was blieb ihm anderes übrig, und außerdem war es sowieso egal.
    Rudolf sagte zu Karl, er solle losfahren.
    Jonathan sah zum Fenster hinaus. Er hatte nicht die Absicht, Rudolf um irgendwelche Erklärungen zu bitten. Lieber würde er selber in einem Wörterbuch nachschlagen oder Reeves fragen. Jonathan dröhnten die Ohren; er lehnte sich zurück und atmete tief durch. Rudolf warf ihm einen kurzen Blick zu und kurbelte sofort sein Fenster herunter.
    Karl sagte über die Schulter: »Meine Herren, Herr Minot erwartet Sie beide zum Mittagessen. Danach geht es vielleicht in den Zoo.«
    Rudolf mußte lachen und antwortete auf deutsch.
    Jonathan dachte daran, Karl zu bitten, ihn zum Hotel zurückzufahren. Doch was sollte er dort? Über die Werte brüten, ohne den ganzen Bericht zu verstehen? Irgendwo unterwegs wollte Rudolf abgesetzt werden. Karl hielt an einem Kanal; Rudolf streckte die Hand aus, ergriff Jonathans Rechte und schüttelte sie kräftig. Dann fuhr Karl weiter zu Reeves. Die Alster funkelte in der Sonne, kleine [104]  Boote tanzten fröhlich vor Anker, und ein paar Segelboote glitten über das Wasser, glatt und weiß wie neue Spielzeugschiffchen.
    Gaby ließ Jonathan herein. Reeves telefonierte gerade, legte aber bald auf.
    »Hallo, Jonathan. Was gibt’s Neues?«
    »Nichts allzu Gutes«, sagte Jonathan. Er blinzelte, geblendet vom

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