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Ripley’s Game oder Der amerikanische Freund

Ripley’s Game oder Der amerikanische Freund

Titel: Ripley’s Game oder Der amerikanische Freund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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in den höchsten Tönen. Sie hielten vor dem Hotel.
    »Wir holen Sie zum Essen ab«, verkündete Reeves fröhlich. »Um sieben!«
    Jonathan ließ sich den Schlüssel geben und ging auf sein Zimmer, zog das Jackett aus und ließ sich bäuchlings aufs Bett fallen. Nach ein paar Minuten raffte er sich auf. Er ging zum Schreibtisch. In einer Schublade lag Briefpapier, Jonathan setzte sich hin und schrieb:
    4.   April 19–
    Meine liebe Simone,
    gerade habe ich eine Untersuchung hinter mir. Die Ergebnisse bekomme ich morgen früh. Sehr gut organisiertes Krankenhaus, der Arzt sieht aus wie Kaiser Franz Josef. Angeblich der beste Hämatologe der Welt! Wie der [92]  Befund morgen auch ausfallen wird, es wird mich beruhigen, daß ich Bescheid weiß. Mit ein bißchen Glück bin ich morgen vielleicht schon zu Hause, noch bevor Du diesen Brief bekommst, wenn Dr.   Wentzel nicht noch weitere Tests mit mir vorhat.
    Schicke gleich ein Telegramm, nur damit Du weißt, daß es mir gutgeht. Du fehlst mir. Ich denke an Dich und an Cailloux.
    A bientôt, in Liebe,
    Dein Jon
    Er hängte seinen besten, dunkelblauen Anzug in den Schrank, ließ die restlichen Sachen im Koffer und ging hinunter, den Brief aufzugeben. Am Abend zuvor hatte er am Flughafen einen seiner wenigen uralten Reiseschecks zu zehn Pfund eingelöst. Er schrieb Simone ein kurzes Telegramm: Es gehe ihm gut, ein Brief sei unterwegs. Dann trat er hinaus. Vor dem Hotel merkte er sich den Straßennamen, prägte sich die Umgebung ein – vor allem die riesige Bierreklame fiel ihm auf – und begab sich auf einen Spaziergang.
    Auf dem Gehweg herrschte dichtes Gedränge: Passanten, die einkaufen wollten oder Dackel an der Leine führten, Händler an jeder Straßenecke, die Obst oder Zeitungen verkauften. Jonathan blieb vor einer Auslage voller schöner Pullover stehen. Ein eleganter Morgenrock aus blauer Seide hing vor weißen Schaffellen. Er fing an, den Preis in Franc umzurechnen, gab aber gleich wieder auf. So gut gefiel ihm der Morgenrock nun doch nicht. Er überquerte eine breite verkehrsreiche Straße mit Bussen und Straßenbahnen, kam [93]  zu einer Fußgängerbrücke, die über einen Kanal führte, und blieb stehen. Er wollte nicht hinübergehen. Vielleicht einen Kaffee. Er steuerte auf ein einladendes Café mit Gebäck und Kuchen im Schaufenster zu, mit einem Tresen und kleinen Tischen davor, konnte sich aber nicht überwinden einzutreten. Er hatte schreckliche Angst vor dem Befund morgen früh, das war es, und auf einmal überkam ihn wieder das alte Gefühl, innerlich völlig ausgehöhlt zu sein, dünn wie Seidenpapier, und seine Stirn fühlte sich kalt an, als entweiche alles Leben aus ihm.
    Jonathan wußte, oder argwöhnte doch mindestens, daß der Befund morgen gefälscht sein würde. Rudolfs Anwesenheit bei der Untersuchung war ihm suspekt gewesen. Ein Medizinstudent, der nicht helfen konnte, weil er nicht gebraucht wurde, denn Wentzels Krankenschwester hatte Englisch gesprochen. Vielleicht schrieb Rudolf ja heute noch einen falschen Bericht und schob ihn ihm irgendwie unter? Er malte sich sogar aus, wie sich Rudolf am Nachmittag im Krankenhaus Papier mit dem Briefkopf der Klinik beschafft hatte. Vielleicht verlor er aber auch allmählich den Verstand, sagte er sich.
    Jonathan kehrte um und ging auf dem kürzesten Weg zum Hotel Viktoria zurück. Dort ließ er sich den Schlüssel geben und ging auf sein Zimmer, zog die Schuhe aus, ging ins Bad und feuchtete ein Handtuch an, das er sich auf dem Bett über Augen und Stirn legte. Müde war er nicht, ihm war nur seltsam zumute. Reeves Minot war auch seltsam: einem völlig Unbekannten sechshundert Franc vorzuschießen, um ihm dann einen so aberwitzigen Vorschlag zu unterbreiten und mehr als vierzigtausend Pfund zu [94]  versprechen. Das konnte nicht wahr sein. Reeves würde nie zahlen können. Offenbar lebte er in einer Traumwelt. Vielleicht war er nicht einmal ein Gauner, nur ein bißchen durchgedreht, einer, der in und von dem Wahn lebte, wichtig und mächtig zu sein.
    Das Klingeln des Telefons weckte ihn. Ein Mann sagte auf englisch: »Unten wartet ein Tschentleman auf Sie, Sir.«
    Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, daß es kurz nach sieben war. »Würden Sie ihm ausrichten, ich bin in zwei Minuten unten?«
    Jonathan wusch sich das Gesicht, zog einen Rollkragenpulli an, darüber ein Jackett. Den Mantel nahm er auch mit.
    Karl war allein gekommen. Im Wagen fragte er auf englisch: »Hatten Sie einen angenehmen

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