Ripley’s Game oder Der amerikanische Freund
halben Stunde den Mantel anziehen und am Ende des Wagens auf Marcangelo warten. Und was, wenn der Mann das WC am anderen Ende des Wagens benutzte? Toiletten gab es hier wie dort. Oder wenn er gar nicht austreten mußte? Möglich, wenn auch unwahrscheinlich. Oder wenn die Italiener einfach keine Lust hatten, im Speisewagen zu essen? Nein, das war unlogisch; sie würden essen gehen, allerdings nur gemeinsam. Sollte er keine Gelegenheit finden, mußte sich Reeves eben einen neuen, besseren Plan ausdenken. Aber wenn er mehr Geld bekommen wollte, dann mußte Marcangelo oder jemand gleichen Kalibers sterben, und zwar von seiner Hand.
Kurz vor vier zwang sich Jonathan aufzustehen. Behutsam nahm er den Mantel mit dem Gewicht in der rechten Tasche aus der Ablage, zog ihn draußen im Gang an und ging, das Taschenbuch in der Hand, zum anderen Ende von Marcangelos Wagen.
[164] 11
Diesmal sah Jonathan nicht hin, als er am Abteil der Italiener vorbeikam, doch bemerkte er aus den Augenwinkeln ein Durcheinander – mehrere Männer, die sich, vielleicht zum Spaß, um einen Koffer balgten. Er hörte sie lachen. Gleich darauf lehnte er sich gegen eine Karte von Mitteleuropa, die in einem Metallrahmen steckte, vor sich die halb verglaste Gangtür, und sah einen Mann auf sich zukommen und die Tür aufstoßen. Der Mann wirkte wie einer von Marcangelos Leibwächtern, ein dunkelhaariger Dreißiger mit grimmiger Miene und stämmigem Körper. Eines Tages würde er einer mißmutigen Kröte gleichen. Jonathan mußte an die Fotos auf dem Umschlag von Die Sensenmänner denken. Der Mann ging zur Toilette und trat ein. Jonathan blickte weiter in sein aufgeschlagenes Buch. Bald darauf kam der Mann wieder heraus und schlenderte in den Gang zurück.
Jonathan hatte die Luft angehalten. Was, wenn das Marcangelo gewesen wäre? Günstiger hätte die Gelegenheit nicht sein können, denn es war niemand vorbeigekommen, weder aus dem Gang noch aus dem Speisewagen. Doch er wußte, daß er wie angewurzelt stehengeblieben wäre und so getan hätte, als lese er, wenn es wirklich Marcangelo gewesen wäre. Seine rechte Hand in der Tasche [165] sicherte und entsicherte die kleine Pistole. Was riskierte er schon? Was hatte er zu verlieren? Nur sein Leben.
Jeden Augenblick konnte Marcangelo schwerfällig den Gang entlangstapfen, die Tür aufstoßen – und dann? Könnte es nicht laufen wie zuvor in der U-Bahn-Station? Und dann eine Kugel für sich selber. Statt dessen stellte Jonathan sich vor, wie er auf Marcangelo feuerte und die Waffe sofort zur Tür neben dem WC hinauswarf, oder zum Fenster, das sich offenbar öffnen ließ, um dann lässig in den Speisewagen zu schlendern, Platz zu nehmen und etwas zu bestellen.
Völlig unmöglich.
Ich werde jetzt was trinken gehen, dachte er und ging in den Speisewagen, wo noch viele Tische frei waren, Vierertische auf der einen, Zweiertische auf der anderen Seite. Er setzte sich an einen der kleineren Tische. Ein Kellner kam, Jonathan bestellte ein Bier, überlegte es sich aber gleich darauf anders: »Weißwein bitte«, sagte er auf deutsch.
Der Kellner brachte ein Viertel kühlen Riesling. Das Klackediklack der Räder klang hier gedämpfter, satter. Durch das größere Fenster, das dennoch mehr Geborgenheit vermittelte, wirkte der Wald (der Schwarzwald?) fabelhaft üppig und grün, ein endloses Meer hoher Tannen, so als habe Deutschland so viele davon, daß keine geschlagen werden mußten. Nirgendwo war nur ein Fitzelchen Papier zu sehen noch jemand, der sich um den Abfall kümmerte, was Jonathan nicht weniger überraschte. Wann kehrten die Deutschen ihre Straßen? Jonathan versuchte sich mit dem Wein Mut anzutrinken. Irgendwie, irgendwo hatte er jeden Schwung verloren; nun mußte er ihn [166] wiederfinden, mehr nicht. Er leerte sein Glas wie nach einem unvermeidlichen Trinkspruch, zahlte und zog seinen Mantel an, den er über den Stuhl gegenüber gelegt hatte. Er würde am Wagenende warten, bis Marcangelo auftauchte, und ob der Mann nun allein kam oder mit seinen beiden Leibwächtern, er würde schießen.
Jonathan riß an der Wagentür, schob sie zur Seite. Wieder war er zwischen den Wagen gefangen, wieder lehnte er gegen die Karte, schaute in das dämliche Buch. »…David hatte sich schon gefragt, ob Elaine etwas ahnte. Verzweifelt ging er in Gedanken die Ereignisse des…« Sein Blick glitt über die Buchstaben, als könne er nicht lesen. Ihm fiel etwas ein, an das er vor Tagen hatte denken müssen: Simone
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