Riptide - Mörderische Flut
mich offenbar von Anfang an falsch verstanden.« Sie fuhr Hatch mit dem Zeigefinger über den Handrücken. »Ich spiele nun einmal gerne mit den Männern, comprendez vous ? Aber nur dem richtigen gestatte ich es, mich zu fangen. Schließlich habe ich eine stockkatholische Erziehung genossen.«
Hatch sah sie einen Moment lang erstaunt an, bevor er den Pinsel wieder zur Hand nahm. »Ich hatte eigentlich gedacht, Sie würden sich heute mit Neidelman im Orthanc einschließen und über Plänen und Diagrammen brüten.«
Als Hatch dieses Thema anschnitt, verfinsterte sich Bonterres Gesicht. »Nein«, sagte sie, und ihre gute Laune schien mit einemmal verflogen. »Der Kapitän hat keine Zeit mehr für sorgfältige Archäologie. Er treibt jetzt nur noch. Vite vite . Ihn interessiert ausschließlich der Schatz, und alles andere kann zum Teufel gehen. Er ist momentan unten in der Grube und bereitet die Bergung des Schatzes vor. Und zwar ohne Bodenproben zu nehmen oder auf eventuell vorhandene Artefakte zu achten. Ich kann es nicht mit ansehen.«
Hatch sah sie erstaunt an. »Er arbeitet wirklich heute am Sonntag?« Das war gegen die Vorschriften, weil nämlich kein Arzt auf der Insel war.
Bonterre nickte. »Seit Christophe das mit dem umgedrehten Kathedralenturm herausgefunden hat, ist er wie besessen. Ich glaube, er hat eine ganze Woche lang nicht geschlafen und nur gearbeitet. Aber trotz aller Eile hat er zwei Tage gebraucht, bis er meinen guten Christophe um. Hilfe gebeten hat. Dabei habe ich ihm immer wieder erzählt, daß nur er mit seinem profunden Wissen über Architektur die fehlenden Streben rekonstruieren kann. Aber Gerard wollte einfach nicht auf mich hören.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn nie richtig verstanden, aber jetzt werde ich überhaupt nicht mehr schlau aus ihm.«
Einen Augenblick lang überlegte Hatch, ob er Bonterre von Neidelmans Befürchtungen in Hinblick auf einen Saboteur oder von den Dokumenten erzählen sollte, die er auf seinem Speicher gefunden hatte, aber dann entschied er sich doch dagegen. Das konnte alles warten. Sollte sich doch Neidelman am Sonntag krumm und bucklig arbeiten, wenn er es nicht anders wollte. Hatch jedenfalls hatte frei und freute sich, den Nachmittag mit Malen zu verbringen. »Jetzt wird es Zeit für den Mount Lovell«, sagte er und deutete auf den dunklen Umriß in der Ferne. Bonterre sah zu, wie er das Grau mit etwas Kobaltblau mischte und damit eine dicke nasse Linie an den Horizont des Bildes malte. Dann nahm er das Aquarell von der Staffelei, drehte es um und wartete, bis die feuchte Farbe in den Himmel hineingeflossen war. Anschließend stellte er es richtig herum wieder auf die Staffelei.
» Man dieu ! Wo haben Sie denn das gelernt?«
»Es gibt eben in jedem Metier gewisse Kunstkniffe« meinte Hatch, während er die Pinsel säuberte und zusammen mit den Farbtuben zurück in den Malkasten legte. Dann stand er auf. »Das Bild muß jetzt eine Weile trocknen. Warum machen wir in der Zwischenzeit nicht eine kleine Kletterpartie?«
Austernschalen zerbröselten knirschend unter ihren Schritten, als sie nebeneinander den größten der Muschelhaufen erklommen. Oben angelangt, ließ Hatch seinen Blick an ihren beiden Booten vorbei über den Fluß schweifen. Vögel raschelten im dichten Laub der Eichen, und die Luft war warm und klar. Wenn sich ein Sturm zusammenbraute, dann war zumindest hier nichts davon zu spüren. Flußaufwärts sah man keinerlei Anzeichen menschlicher Besiedelung, nur die blauen Wasserschleifen und ausgedehnte Wälder, die hier und da von Wiesen unterbrochen wurden.
» Magnifique «, hauchte Bonterre. »Ein wahrhaft magischer Ort.«
»Ich war einmal mit meinem Bruder Johnny hier. Ein Lehrer von der Highschool zeigte uns diese Stelle einen Tag vor seinem Tod.«
»Erzählen Sie mir von Johnny«, bat Bonterre.
Schweigend setzte sich Hatch auf die Austernschalen, die unter seinem Gewicht knirschten und knackten. »Er hatte mich ganz schön unter der Fuchtel«, sagte er. »In Stormhaven gab es nicht so viele Kinder, und deshalb mußten wir ziemlich viel zu zweit unternehmen. Johnny und ich waren die besten. Freunde -zumindest solange er mich nicht vermöbelt hat.«
Bonterre lachte.
»Er mochte alles, was mit Naturwissenschaften zu tun hatte mehr noch als ich. Johnny hatte unglaublich umfangreiche Sammlungen von Schmetterlingen, Mineralien und Fossilien. Außerdem kannte er die Namen sämtlicher Sternbilder und hat sich sogar ein Teleskop
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