Riptide - Mörderische Flut
friedlichen wie traumlosen Schlaf.
39
Am folgenden Nachmittag erhielt Hatch Nachricht von der Marquesa.
Zunächst hatte sein Internetzugang nicht so recht klappen wollen, und er hatte erst mit der »Plain Jane« von der Insel ablegen und bis hinter die Nebelbank fahren müssen, um per Handy Verbindung mit dem E-Mail-Server aufnehmen zu können. Was ist auf dieser Insel bloß ständig mit den Computern los?, fragte er sich, während sein Laptop draußen auf dem Wasser die Nachrichten problemlos aus dem Netz lud.
Hatch warf den Motor wieder an und fuhr zurück nach Ragged Island. Der Bug der »Plain Jane« glitt durch das glasklare, nur leicht von einer Dünung bewegte Wasser und schreckte dabei einen Kormoran auf, der sofort untertauchte. Nach einer Weile kam der Vogel zwanzig Meter vom Boot entfernt wieder zum Vorschein und paddelte beleidigt von dannen.
Im Radio des Bootes hörte Hatch den Seewetterbericht: Die Störung über den Great Banks hatte sich zu einem kräftigen Tiefdrucksystem entwickelt, das sich auf die Küste von Nordmaine zubewegte. Wenn das Unwetter seinen bisherigen Kurs beibehielt, würde es gegen Mittag des nächsten Tages eine Sturmwarnung für kleinere Fahrzeuge geben. Ein klassischer Nordost-Sturm, ging es Hatch durch den Kopf.
Am Horizont sah er mehr Hummerboote als gewöhnlich ihre Fallen aus dem Wasser ziehen. Vielleicht bereiteten sich die Fischer ja schon auf den Sturm vor, vielleicht hatten sie aber auch einen anderen Grund. Obwohl er Claire seit ihrem Erlebnis in Squeaker's Cove nicht mehr gesehen hatte, wußte er, daß ihr Mann seine Protestaktion für den einunddreißigsten August, geplant hatte. Bill Banns hatte es ihm am Sonntagabend telefonisch mitgeteilt.
Als Hatch wieder in seiner Praxis war, trank er den Rest Kaffee und schaltete den Laptop ein. Er war gespannt, was die Marquesa ihm geschrieben hatte. Wie es so ihre Art war, informierte ihn die schlitzohrige alte Dame erst einmal über ihre neueste Eroberung:
Er ist schrecklich schüchtern, aber furchtbar süß und wahnsinnig aufmerksam. Ich bin ganz vernarrt in ihn. Er hat dunkelbraunes lockiges Haar, das ihm in die Stirn fällt und ganz schwarz wirkt, wenn er verschwitzt vom Sport kommt. Alles, was er tut, ist voll von jugendlichem Enthusiasmus. Gibt es etwas Schöneres?
Sie fuhr fort, indem sie Vergleiche zwischen verflossenen Liebhabern und Gatten zog, wobei sie recht detailliert auf gewisse Punkte der männlichen Anatomie einging. Die Marquesa betrachtete E-Mails ganz offensichtlich als ein Medium für weitschweifige Geständnisse. Normalerweise wäre sie als nächstes auf ihre chronische Geldknappheit zu sprechen gekommen sowie auf den illustren Stammbaum ihrer Familie, der sich quer durchs Heilige Römische Reich bis zu Alarich, dem Westgoten, zurückverfolgen ließ. Diesmal aber kam sie ungewohnt rasch zu den Informationen, die sie in den Archiven der Kathedrale von Cádiz ausgegraben hatte. Als Hatch sie las, lief ihm ein eiskalter Schauder über den Rücken.
Beim zweiten Durchlesen der E-Mail klopfte es an der Tür.
»Herein«, sagte Hatch, während er dem Laptop Befehl gab, die Mitteilung der Marquesa auszudrucken. Er blickte auf, sah einen Arbeiter vor sich stehen und erschrak.
»Großer Gott«, hauchte er und erhob sich rasch. »Was ist denn mit Ihnen passiert?«
40
Fünfzig Minuten später stieg Hatch raschen Schrittes den Pfad zur Wassergrube hinauf. Die Strahlen der sinkenden Sonne tauchten die Nebelbank vor der Insel in ein feuriges Orange.
Der Orthanc war leer bis auf Magnusen und einen Techniker, der die Winde bediente, die gerade einen großen, an einem Stahlseil befestigten Behälter aus der Grube heraufzog. Durch den Glasboden des Kontrollraums konnte Hatch sehen, wie Arbeiter am Rand der Grube den Behälter zur Seite drückten und in einen aufgelassenen Schacht gleich neben der Wassergrube entleerten. Mit einem lauten, schmatzenden Geräusch ergossen sich unzählige Liter flüssigen Schlamms in die Tiefe. Die Arbeiter richteten den geleerten Behälter wieder gerade und schwenkten ihn zurück über die Wassergrube, wo er gleich darauf wieder nach unten gelassen wurde.
»Wo ist Gerard?« fragte Hatch.
Magnusen, die ein Drahtgittermodell der Grube auf ihrem Monitor hatte, sah kurz zu Hatch hinüber. »Unten«, sagte sie kurz angebunden.
An der Wand neben dem Bedienungspult der Winde befanden sich sechs rote Telefone, die mit verschiedenen Punkten auf der Insel verbunden waren. Hatch hob eines
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