Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft (German Edition)
gepostet ist […]. Das muss ich einfach sehen. Geht nicht anders.« Auch Maury kann es sich nicht erklären, sondern erzählt von seinem Bedürfnis, vernetzt zu sein: »Ich unterbreche ein Gespräch, selbst wenn auf dem Display ›Unbekannt‹ steht – ich muss einfach wissen, wer das ist. Also schmeiß ich einen Freund für einen ›Unbekannten‹ aus der Leitung. Ich muss wissen, wer mit mir sprechen will, […] und wenn ich mein Telefon höre, kann ich nicht anders, ich geh ran. Ich habe keine Wahl. Ich muss wissen, wer es ist, weswegen er anruft.« Marilyn fügt hinzu: »Ich lass den Ton an beim Fahren. Wenn ein Text reinkommt, muss ich nachsehen. Egal, was ist. Zum Glück zeigt mir mein Handy den Text vorne in einem Pop-up-Fenster […], daher brauch ich beim Fahren nicht zu lange wegzugucken.«
Diese drei Studenten sind bereit, einen Autounfall zu riskieren, um ihr Bedürfnis nach digitaler Vernetzung zu befriedigen. Auf die Frage, wann sie sich zuletzt gewünscht hätten, nicht unterbrochen zu werden, herrscht Schweigen. »Ich warte selbst in diesem Augenblick darauf, unterbrochen zu werden«, sagt einer. Unterbrechung ist Verbindung geworden. Selbst wenn sie real mit Freunden zusammen sind, verspüren sie den heftigen Drang, online von jemandem kontaktiert zu werden.
Die digitale Technik hat die Herrschaft über die Risikobereitschaft und die sozialen Beziehungen junger Menschen angetreten. Sie hat auch die Beziehung vieler Eltern zu ihren Kindern verändert. Da sie ständige Überwachung ermöglicht, geben die Eltern häufig der Versuchung nach; das Ergebnis ist verstärkte Elternangst. Verzweifelt meinte eine Mutter:
»Ich habe eine SMS geschickt. Keine Antwort. Dabei bin ich mir sicher, dass sie ihre Handys dabeihaben. Vom Verstand her weiß ich, dass es eigentlich keinen Grund zur Sorge gibt. Doch irgendwie sind diese unbeantworteten Textnachrichten beunruhigend.«
Dieselbe Mutter beneidete ihre Mutter, die sich damals keine Sorgen machte. Die Kinder gingen in die Schule und kamen nach Hause. Ihre eigene Mutter arbeitete und war gegen sechs wieder da. Heute träumen einige Kinder davon, dass ihre Eltern sie freudig erwarten – ohne sie unterwegs zweimal angerufen zu haben. Aus »Ich möchte mal anrufen« ist »Ich muss mal anrufen« geworden. Die Fähigkeit, allein zu sein und sich privat mit den eigenen Gefühlen auseinanderzusetzen, ist wider den Geist digitaler Vernetzung; Teenager leiden nach eigenem Bekunden, wenn sie ohne Handy sind. In einer Studie wird berichtet, dass zwei Drittel der Briten sich beim Abfassen von Textnachrichten so sehr auf ihr Handy konzentrieren, dass ihnen das periphere Sehen verloren geht. 262 Es heißt, einige Städte hätten ihre Laternenpfähle gepolstert, nachdem Fußgänger immer wieder dagegengelaufen seien.
Sind Jugendliche, die den digitalen Medien verfallen sind, wenigstens glücklich? In einer deutschen Studie an über hundert 14- bis 17-Jährigen mit extremer Internetnutzung wurde berichtet, dass nur 10 Prozent sehr glücklich in ihrer Freizeit waren (gegenüber 39 Prozent in einer Kontrollgruppe von Gleichaltrigen), 13 Prozent mit ihren Freunden (gegenüber 49 Prozent), 3 Prozent mit sich selbst (26 Prozent) und nur 2 Prozent mit ihrem Leben im Allgemeinen (29 Prozent). 263 Diese Jugendlichen hatten weitgehend mit dem Lesen aufgehört sowie gänzlich davon abgelassen, zu Veranstaltungen zu gehen oder sich gesellschaftlich zu engagieren.
Digitale Risikokompetenz ist die Fähigkeit, die Vorteile digitaler Technologie zu nutzen und die schädlichen Auswirkungen zu meiden. Sie hat eine kognitive und ein motivationale Komponente: Risikointelligenz und Selbstbeherrschung.
Digitale Risikointelligenz
Um risikointelligent zu sein, brauchen wir ein gründliches Verständnis der für eine digitale Welt relevanten Fakten und psychologischen Prinzipien. Eine solche Tatsache sind die potenziellen Schäden, die aus der Verwendung eines Handys beim Autofahren erwachsen können. Wie in der Einleitung erwähnt, verlangsamt sich die Reaktionszeit eines 20-Jährigen, wenn er in ein Handy spricht, auf die eines 70-Jährigen ohne Handy. Während Radiohören die Fahrleistung nicht beeinträchtigt, »übersehen« in Handygespräche vertiefte Fahrer Ampeln und andere Objekte, selbst wenn sie diese anblicken. Sie haben mehr Auffahrunfälle und genauso viele – oder mehr – Unfälle wie angetrunkene Fahrer mit 0,8 Promille Blutalkohol. Das gilt für gewöhnliche Handys und
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