Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
kommen, Sommer wie Winter, die vielleicht jedesmal vierhundert oder fünfhundert Kilometer weit fahren müssen. Und dann gibt es Eltern, die am Anfang vielleicht ziemlich oft kommen, und dann immer seltener. Sie vergessen sie. Vielleicht gibt es zu Hause Geschwister, die besser dran sind, vielleicht verkraften sie es nicht oder verdrängen sie ganz einfach. Viele von ihnen scheinen erleichtert zu sein, wenn die Kinder sterben.
– Sterben?
– Viele von ihnen sterben sehr früh. Die Hydrocephalen zum Beispiel.
Wir waren in eine Art Spielzimmer gekommen. Frau Norberg räumte ein paar vergessene Klötze in einen mit fröhlichem Gelb gestrichenen Holzkasten. Die Wände waren mit Sprossenwänden versehen, wie in einer Turnhalle.
– An regnerischen Tagen, und natürlich vor allem jetzt im Winter, verbringen wir hier den größten Teil der Zeit mit ihnen. Aber wir versuchen natürlich dafür zu sorgen, daß sie mindestens ein oder zwei Stunden draußen sind, wenn das Wetter nicht ganz unmöglich ist. Manchmal machen wir auch Ausflüge. Ich kenne ein Busunternehmen hier in der Gegend, die Fahrer sind sehr freundlich und hilfsbereit.
– Wohin machen Sie denn Ihre Ausflüge?
– Nur in die Nähe der Orte in der Umgebung, an Plätze, wo wir Spiele veranstalten und ihnen etwas von den Vögeln und Pflanzen zeigen können. Wir machen sehr simple Wettspiele und so etwas.
– Ich weiß, sagte ich, meine Kinder machen oft...
– Entschuldigen Sie mal eben, sagte Johansson, der lange schweigend im Spielzimmer auf und ab gegangen war und zugehört hatte.
Sagten Sie, daß Sie öfters Ausflüge mit den Kindern machen?
– Aber ja. Sie müssen doch schließlich sehen, daß die Welt ein bißchen größer ist als dieser Garten.
– Haben Sie solche Ausflüge auch mit den Kindern gemacht, die Leukämie bekommen haben?
– Nach ihrer Erkrankung? Nein.
– Ich meine: Waren die Kinder, die später Leukämie bekamen, auf so einem Ausflug dabei?
– Es ist nicht leicht, sich daran zu erinnern, aber das müssen sie wohl gewesen sein. Ist das so wichtig?
– Es kann ungeheuer wichtig sein. Frau Norberg, können Sie versuchen, sich zu erinnern, wohin Sie in diesem Herbst gefahren sind und wo Sie sich genau aufgehalten haben?
– Ich glaube, ich habe ein Tagebuch darüber.
– Gibt es in dieser Gegend ein Hotel, in dem wir übernachten können?
– Das ist schwierig. Vielleicht können Sie oben beim Kaufmann ein Zimmer mieten. Früher hat er jedenfalls Fremdenzimmer gehabt. Aber sie sind möglicherweise nicht geheizt.
– Es tut mir leid, Frau Norberg, daß wir Ihnen soviel Mühe machen, aber ich glaube, die Sache mit den Ausflügen kann ungeheuer wichtig sein. Ich meine, wir dürfen nicht lockerlassen, bevor wir das nicht irgendwie geklärt haben.
– Dann rufe ich jetzt den Kaufmann an.
Wir verließen das Kinderheim gegen neun Uhr abends. Frau Norberg konnte uns zu ihrem Bedauern nichts anderes anbieten als Eierkuchen – den gleichen, den die Kinder immer donnerstags bekamen. Ich ekelte mich unwahrscheinlich vor dem fetten, mehligen Pfannkuchen.
Die Fremdenzimmer des Kaufmanns waren tatsächlich ganz eiskalt, und wir hatten schwer mit einem qualmenden Kachelofen zu kämpfen. Frau Norberg war besorgt und betrübt, als wir sie verließen. Aber man konnte ja unmöglich darüber reden, wohin diese Ausflüge geführt hatten, ohne irgendwie anzudeuten, daß da ein Zusammenhang bestehen könnte.
Um zwei Uhr nachts hatten wir unsere Karten fertig.
– Da kann kein Zweifel bestehen, sagte Johansson und erhob sich steifbeinig. Er hatte sich bis zum Kinn in eine der Reisedecken gehüllt. Er trug lange Unterhosen. Er ging im Zimmer auf und ab und sah mehr denn je wie ein trauriger Kleinbauer aus.
– Es besteht kein Zweifel. Es ist dieselbe Stelle. Im nördlichen Klarälvsdalen gibt es einen Kahlschlag, der eine nicht bakterielle Leukämie verbreitet. Absolut tödlich.
Ich selbst hatte mich mittlerweile in ein einziges pochendes, dröhnendes Kopfweh verwandelt.
Racket Ball
– Wenn du so weitermachst, wird es total schiefgehen, sagte Wittfogel mit ungewöhnlicher Aufrichtigkeit. Er putzte mit unverdrossener Hartnäckigkeit seine Brille, bekam aber offenbar den unsichtbaren Fleck, der ihn irritierte, nicht weg. Vielleicht befand er sich auf seiner Hornhaut?
Es wird total schiefgehen. Johansson ist bestimmt ein prima Kerl, aber er hat etwas von einem Phantasten, darüber mußt du dir im klaren sein. Ich habe oft den
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