Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
uns nicht reinlassen, werden sie ihr blaues Wunder erleben. Ich werde das Sozialamt auf sie hetzen und dafür sorgen, daß dieser Laden schnellstens dichtgemacht wird.
– Du bist aber ganz schön in Rage, sagte Johansson ruhig. Er schälte gerade sorgfältig die letzte unserer Apfelsinen.
– Möchtest du ein paar Schnitze?
– Nein danke, sagte ich. Ich werde jetzt langsam müde und sauer.
Es dauerte mindestens zehn Minuten, bevor die Tür sich wieder öffnete. Zwei Gestalten kamen heraus. Als sie sich näherten, konnte ich im Licht der Scheinwerfer erkennen, daß die eine davon weiblich war. Die andere war ein Kind, enorm dick, mit einem erschreckend großen Kopf. Es war sehr ordentlich gekleidet, hatte eine wattierte Jacke an, einen dicken gestrickten Schal um den Hals, eine Strickmütze Modell Heinzelmännchen und ganz leere, große blaue Augen. Zwei Rotzfäden liefen von der Nase herunter. Vor so etwas habe ich mich immer schon ein bißchen geekelt.
Die Dame war mager, dunkel, sah nicht besonders gut aus, weil das Gesicht etwas zu pferdeartig in die Länge gezogen war, aber sie war offenbar sehr gepflegt.
– Norberg, sagte sie. Sie müssen bitte entschuldigen. Ich hatte gerade zu tun, und der Pfleger hatte keine Ahnung, daß Sie kommen wollten und wer Sie sind. Ich habe Ihren Brief bekommen, aber ich habe ehrlich gesagt soviel zu tun gehabt, daß ich es nicht geschafft habe zu antworten.
Das Kind, das mich die ganze Zeit über mit unverändert leeren Augen aufmerksam angesehen hatte, kroch in den Wagen und fing an, am Schalthebel und am Steuer herumzufingern. Es gelang ihm, das Licht abzuschalten, so daß wir alle in einer fast totalen Dunkelheit standen. Die einzigen Lichter kamen aus dem Haus. Von drinnen war immer noch das eintönige Geklapper zu hören.
Es dauerte eine Weile, bis die Heimleiterin das Kind auf dem Vordersitz erwischte und es herausziehen konnte. Es schrie und protestierte lautstark mit einer sonderbar winselnden Stimme, hartnäckig genug, um jedes vernünftige Gespräch unmöglich zu machen.
Ich beugte mich hinein und packte meine Aktenmappe. Wir schlossen den Wagen gar nicht erst ab.
Es war eine ziemlich große Diele oder Halle. Ordentliche kleine Kleiderhaken, genau wie in einer Schule, sehr gleichartige wattierte Jacken in Blau und Rot an den meisten Haken, über jedem davon ein Name. Der Raum erschien einem ungeheuer warm, wenn man aus der Kälte draußen kam, und es gab dort einen Geruch, den ich nicht mochte, einen unverkennbaren Anstaltsgeruch: nach Putzmitteln, Haferbrei und noch etwas drittem, das mir vorkam wie der Geruch nach altem, trockenen Holz.
Das Geklapper hatte sich ganz enorm verstärkt.
– Sie essen jetzt gerade. Vielleicht gehen wir ein Weilchen zu mir hinein, damit wir in Ruhe miteinander reden können, dann können Sie sich nachher umsehen.
Sie setzte den schreienden Wasserkopf ab und gab ihm oder ihr einen freundschaftlichen Klaps auf den Popo. Eine Pflegerin, die gerade aus einem Raum gekommen war, der der Speisesaal sein mußte, freute sich sichtlich, als sie das Kind erblickte, und begann es auszuziehen. Es war ein schwerfälliger, unbeholfener Ringkampf, und mit einer Art Erleichterung merkte ich, daß die Pflegerin das Kind vollkommen unsentimental, aber nicht unfreundlich behandelte. Sie hatte etwas von den entschiedenen, sicheren Bewegungen einer Hebamme.
Frau Norbergs Zimmer war kein gewöhnliches Büro, sondern ein Zimmer in ihrer eigenen Wohnung, im rechten Seitenflügel des Gebäudes, voller Topfpflanzen, mit einem Schreibtisch, einem Aktenschrank und einem Bücherregal. Sie hat ja fast alle Telefonbücher des Landes in dem Regal, fiel mir auf. Brauchte sie sie, um mit den Eltern der Kinder sprechen zu können?
– Die Leukämiefälle im letzten Jahr waren ein schreckliches Unglück. Es war schwer für uns, darüber hinwegzukommen. Verstehen Sie, man hat ein anderes Verhältnis zu entwicklungsgestörten Kindern als andere, wenn man Jahr für Jahr mit ihnen arbeitet. Man sieht in ihnen Persönlichkeiten, Menschen. Man hängt an ihnen, oft mehr als die Eltern. Die Eltern sind ja in diesem Fall Leute, die sich aus verschiedenen Gründen nicht selbst um die Kinder kümmern können oder es nicht wollen, und sie sind ja nicht kontinuierlich mit ihnen zusammen wie wir...
Sie unterbrach sich mitten im Satz. Um ihren Mund lag ein bitterer Zug.
– Es sind ja drei verschiedene Untersuchungen gemacht worden. Zuerst durch den Bezirksarzt, er ist
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