Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
einer Wand.
Aber lieber Himmel, hinter diesen Fenstern wird doch ein Leben gelebt! Familienväter kommen von der Arbeit heim, fragen nach dem Wecker, der morgens kaputtgegangen ist, setzen sich mit ihrer Abendzeitung hin...
Die Freundschaftsdelegation
Durch das mehrmalige Umsteigen zwischen Bussen und U-Bahn brauchte die Malerin G. über eine Stunde, um in ihre dunkle, enge Wohnung ganz oben in einer Mietskaserne in Kreuzberg zu gelangen.
Es war ein etwas kühler Abend Anfang April: Der Frühing hatte schon begonnen, aber es war ein zögernder, ein unberechenbarer Frühling mit plötzlichen Hagelschauern, die nachmittags die eben erst ausgeschlagenen Kastanienknospen aus den Baumkronen fegten.
An diesem Tag war in der Dämmerung Regen gefallen, dann hatte es sich wieder aufgehellt, und bevor es ganz dunkel wurde, hatte der ganze Himmel eine eigentümlich rote Farbe angenommen, die sich im blanken Asphalt der Straße des 17. Juni widerspiegelte, so daß die riesige, breite Straße einen Augenblick so aussah, als sei sie in Blut getränkt.
Als Laura auf die Heerstraße hinauskam – es muß gegen elf Uhr abends gewesen sein –, mußte sie ziemlich lange an der Haltestelle der Buslinie 94 warten. Es war schon sehr dunkel geworden, und die Baumkronen des Grunewalds gleich hinter der Haltestelle bewegten sich unruhig im aufkommenden Nachtwind.
Sie fror in ihrem dünnen, fadenscheinigen schwarzen Mantel, band das Kopftuch fester und zog sich immer mehr in den kleinen Windschutz aus Plexiglas zurück, der an der Haltestelle Scholzplatz den Buspassagieren zur Verfügung steht.
Die Wolken trieben auseinander, und ein großer runder Vollmond wurde am unruhigen Himmel sichtbar. Mit ihren eigentümlich abwesenden, leidenschaftlichen dunklen Augen sah sie zum Mond auf, der ein sonderbar zerfurchtes Aussehen hatte, fast als sei er sehr müde.
Als sie den Blick wieder zur Erde senkte, entdeckte sie, daß sie in dem Wartehäuschen nicht mehr allein war. Auf der Holzbank saßen drei Herren, die Ausländer zu sein schienen und in ein lebhaftes, aber sehr leises, halb geflüstertes Gespräch vertieft waren.
Sie mußten ganz unauffällig gekommen sein.
Der Mond schien jetzt über den ganzen Scholzplatz. Sie konnte sich nur schwer erklären, warum die Fremden einen so auffallend ausländischen Eindruck machten. Die drei unterschieden sich sehr stark voneinander, sie hatten eigentlich nur eins gemeinsam, nämlich daß sie alle sehr gut angezogen waren. Vielleicht waren es ausländische Professoren aus dem Gästeheim der Technischen Universität in der Heerstraße 131?
Es sah aus, als hätten sie sich am selben Morgen in einem eleganten Laden am Kurfürstendamm eingekleidet, oder vielleicht in New York, denn ihre dunkelblauen Anzüge schienen amerikanisch zu sein, sie bestanden aus einem dunklen, leicht glänzenden Kunstfasermaterial – hin und wieder, wenn einer von ihnen eine Bewegung machte, schimmerte sein Anzug mit fast metallischem Glanz im Mondschein.
Alle drei trugen genau die gleichen Frühjahrsmäntel aus schottischem Tuch, lässig über die Schultern geworfen, und unter der Bank, zwischen ihre unwirklich blankgeputzten Schuhe geschoben, standen drei völlig identische, harte, flache Diplomatenköfferchen mit Monogramm und eingelassenen Leichtmetallschlössern.
– Ich kann bloß nicht verstehen, dachte die Malerin G., warum sie kein Taxi nehmen, wenn sie so reich sind. Aber vielleicht sind die Taxis gerade knapp. Im gleichen Moment fiel ihr ein, daß sie selbst vielleicht kein Fahrgeld mehr hatte, und sie begann ängstlich in ihrem Portemonnaie zu kramen, wo sich nur ein paar kleine Münzen zwischen Pfandscheinen und einem sehr abgenutzten Lippenstift in einem dunkelroten Farbton versteckten.
In diesem Augenblick war sie ganz sicher, daß sie überhaupt kein Geld mehr für den Bus hatte (sie erwartete seit mehreren Tagen Geld von einem Herrenmagazin, das auf seiner »Kunstseite« eine ihrer Grafiken veröffentlichen wollte, die eine nackte Frau darstellte, aber anscheinend hatte die Redaktion sie völlig vergessen), und sie begann gerade zu überlegen, ob sie nicht zu Madeleine und mir zurückgehen sollte, um sich das Fahrgeld zu leihen, als sie einen nagelneuen Fünfzigmarkschein entdeckte, der zusammengefaltet in einem Winkel des Portemonnaies lag.
Das überraschte sie sehr. Sie konnte einfach nicht begreifen, wie sie ihn dort hatte vergessen können. Er mußte mindestens drei Wochen dort gelegen haben,
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