Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)

Titel: Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lars Gustafsson
Vom Netzwerk:
Ballettwoche, es kam ihr in den Sinn, daß sie es sich vor Jahren zum letztenmal leisten konnte, in die Deutsche Oper zu gehen, und eine Gruppe von japanischen Freistilringern sollte in der Sporthalle auftreten.
    Dann fuhr die Bahn ein, es war eine sehr leere Bahn, nur vereinzelt saßen hier und da alte Damen im Wagen und strickten (in Berlin sieht man selbst um ein Uhr nachts oft strickende alte Damen in der U-Bahn, Berlin ist eine sehr ordentliche Stadt, in der sogar betrunkene Jugendliche sehr anständig in ihrer Ecke sitzen und sich leise unterhalten), aber das war nicht das erste, was der Malerin G. auffiel, sondern etwas anderes, das sie ungeheuer erstaunte und sie dieses tiefe Gefühl von Unwirklichkeit empfinden ließ, bei dem man sich unwillkürlich fragt, ob man tot ist oder lebendig, ob man wach ist oder ganz einfach träumt.
    Ganz am Ende des Wagens saßen die drei Ausländer ordentlich aufgereiht, dieselben schicken viereckigen Aktenkoffer standen in einer Reihe vor den blankgeputzten Schuhen.
    – Aber das ist doch ganz unmöglich, dachte die Malerin G. Ich habe doch gesehen , daß sie mit dem Bus weitergefahren sind. Sie müßten mittlerweile am Savignyplatz sein. Oder sind sie ausgestiegen, haben sich in ein Taxi geworfen, sind zurückgefahren und haben sich in die U-Bahn gestürzt? Aber es gibt doch wohl kein Taxi, das sowas in zwei Minuten schafft! Mein Gott, ich weiß doch, daß ich nicht länger als zwei Minuten zwischen dem Bus und der U-Bahn unterwegs gewesen sein kann.
     
    Es gab nicht das geringste Anzeichen dafür, daß die drei Fremden sie erkannt hatten. Zwei von ihnen waren in ein flüsterndes Gespräch über etwas vertieft, das der eine dem anderen in einer Ausgabe der Financial Times zeigte, der dritte schien ganz versunken zu sein in eine deutsche Taschenbuchausgabe von Bulgakovs »Der Meister und Margarita«, und einen Augenblick spielte die Malerin G. wirklich mit dem Gedanken, daß die Stadt vielleicht voll sei von solchen Gruppen von Ausländern, die zu dritt herumfuhren, mit diesen harten, viereckigen Aktenkoffern und lässig über die Schultern geworfenen schottischen Paletots. Vermutlich machen sie für irgendwas Reklame, dachte sie und nickte ein, viel zu müde, um sich noch weiter über alle Eigentümlichkeiten der Stadt den Kopf zu zerbrechen.
    Aus alter Gewohnheit wachte sie kurz vor der Turmstraße auf, rieb sich den Schlaf aus den Augen und sah mit einer gewissen Erleichterung, daß die drei Ausländer noch in der Bahn saßen, immer noch lesend und leise miteinander redend, als diese sanft aus der U-Bahnstation Turmstraße hinausglitt, auf dem Weg zum Kottbusser Tor.
    Es war jetzt windstill geworden, eine dünne Rauchsäule stieg von der großen, schloßartigen Schultheissbrauerei in der Stromstraße auf, und die beiden Innenhöfe (in denen Kindern das Spielen verboten ist) waren in Mondschein getaucht.
    Die Malerin G. schreckte an den dunklen Torwegen zurück, als habe sie erwartet, daß dort im tiefen Schatten jemand stehen würde, aber es war natürlich kein Mensch da. Das ganze Haus schlief, auf türkisch, auf serbisch und auf deutsch, die schweren Menschenkörper regten sich im Schlaf und träumten in drei Sprachen Träume von fernen Landschaften, die kleinen Kinder lutschten an ihren Stoffpuppen und träumten von einem Platz zum Rennen und zum Spielen, von dem kein Hausmeister sie verjagte. Ein Geruch nach Schweiß, Kohlsuppe und seltsamen moslemischen Gewürzen erfüllte die hohe gewundene Treppenspirale bis obenhin, eine Katze schlich geschmeidig die Treppe hinunter und streifte ihr Knie, und als sie hoch oben unter dem Dachboden den Schlüssel in das Schloß ihrer Wohnungstür steckte und Licht durch das Schlüsselloch fallen sah, fragte sie sich, ob sie wirklich beim Weggehen so schusselig gewesen war, daß sie vergessen hatte, das Licht in der Wohnung auszumachen.
    Im selben Augenblick ahnte sie die Zusammenhänge und empfand kein Erstaunen mehr, sondern nur Ruhe, eine eisige Ruhe.
    Der ausländische Herr, der wie ein englischer oder vielleicht irischer Offizier aussah, saß in der Sofaecke. Vor sich hatte er ihre Teekanne und ihre größte Frühstückstasse. Wo er die warmen, mit Butter bestrichenen Hörnchen herbekommen hatte, die er hin und wieder genüßlich in den Tee stippte, konnte sie sich schwer erklären. Als sie wegging, war ihre Speisekammer leer gewesen.
    Der englische oder irische Gentleman blätterte lässig in einigen Kunstzeitschriften, die vor

Weitere Kostenlose Bücher