Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
sonderbaren, einen völlig wahnsinnigen Traum gehabt hatte.
Es war ein Traum von mir.
Es war ein Traum vom Jahre 1968.
Es war ein Traum von uns.
(was heißt »wir«?)
Ein Jäger hat seine Beute eingeholt, einen Hasen, der so angstvoll davonrennt, daß seine Hinterbeine absurd lang erscheinen. Jetzt zielt der Jäger, jetzt schießt er, jetzt wird den Hasen schließlich sein Schicksal ereilen.
Aber da geschieht etwas völlig Überraschendes.
Etwas Größeres fängt sie beide ein.
Die ganze Szene ist eingeschlossen in Kristall oder in solch einen durchsichtigen, polierten Plastikblock, in den man gewöhnlich Blumen oder Muscheln eingießt.
Der Wind über den Hügeln bringt einen Geruch von Steinkohlenrauch, Autoabgasen, Pommes frites, erhitztem Metall mit. Es ist die Stadt, die aus sich selbst herausweht, über den grünen Buchenwald hin.
Und ganz weit hinten, wie ein weißes Blinken: der Hundekehlensee.
Jetzt hab ich’s:
DIE SCHROTLADUNG, IM FLUG VOR DER FLINTE DES JÄGERS GEFANGEN
Die Geschichte von Tante Clara
Sie war den Onkeln überhaupt nicht ähnlich. Die Onkel waren ziemlich große, etwas klobige Männer, manche davon häßlich, wie Onkel Knutte mit seiner Glatze und seinen Hängebacken, andere wieder recht ansehnlich, wie Onkel Stig mit seinem viereckig geschnittenen Bart und seinen hohen Schläfen, die ihn manchmal fast wie einen polnischen Landadligen aussehen ließen.
Sie hatten etwas Vierschrötiges, Derbes. Sie gehörten zu den Männern, die einen Kahn ordentlich zum Schaukeln bringen, wenn sie sich hineinsetzen. Sie bewegten sich mit schweren, entschlossenen Schritten, so daß die Fußböden knarrten, wenn sie darüber gingen. Sie redeten bedächtig und legten die Stirn in tiefe Falten, und wenn man sie etwas fragte, entstand immer eine Pause, bevor sie eine Antwort fanden.
Tante Clara, die jüngste von den Geschwistern, war von ganz anderer Art.
Sie war klein, dunkel, lebhaft, mit großen Augen, viel zu großen, wie einmal jemand sagte.
Ihr etwas widerspenstiges, dunkles Haar fiel weit über die Schultern herab. Besonders am frühen Morgen konnten ihre Augen ein wenig rotgerändert sein, und wenn sie einen über den Frühstückstisch hinweg ansahen, konnten sie eine eigentümliche Vornehmheit haben – man fühlte sich nicht so fein wie sie.
Sie war eine ziemlich kleine Frau, die sich mit tänzelnden Schritten durch die Welt bewegte und mit einer dunklen, sehr schönen Altstimme sprach.
Wenn sie uns im Sommer besuchte, pflegte sie ein rotgepunktetes Strandkleid zu tragen, das ihre schönen Schultern frei ließ. Eine richtige Sonnenbräune bekam sie nie. Sie war immer ein ganz klein wenig blaß.
Sie redete schnell und ungeheuer viel, und ihre Stimme war so schön, daß ich als Junge fast nie mitbekam, was sie eigentlich sagte, denn alles, was sie sagte, klang wie Musik.
Einige von Béla Bartóks Streichquartetten können mir noch heute einen Schauer den Rücken hinunterjagen, weil sie mich so stark an Tante Claras sanfte, schnurrende Altstimme erinnern, wie sie in der Morgensonne in Ramnäs auf der Treppe sitzt und ihren Morgenkaffee trinkt.
Es verstand sich von selbst, daß Tante Clara feiner war als wir, und es war immer eine große Ehre, wenn sie zu Besuch kam. Sie wurde stets mit einem Taxi am Bahnhof vom Dreiuhrbus abgeholt, und mein Vater hatte immer so etwas wie einen Sommeranzug an, wenn sie kam, von Bierflaschen war dann keine Rede mehr, und sie mußte stets ein Glas und eine Wasserkaraffe in ihrem Schlafzimmer haben, nicht, weil sie es brauchte, sondern weil sie so fein war.
Ich liebte sie unsäglich. Wenn sie sich mir manchmal zuwandte, mich mit ihren großen, blauen, forschenden Augen ansah und sagte:
– Lars, magst du mir nicht zeigen, wie weit du mit dem Boot gekommen bist?
dann lief mir vor unverhohlener Freude ein Kribbeln bis in den Magen hinunter. Es war eine Bestätigung, daß es mich gab, daß wir in irgendeiner fernen Welt ebenbürtig waren, und sie ließ die Sonne den ganzen Tag etwas heller scheinen.
Ich versuchte ihr immer so nahe zu kommen, daß ich den Duft ihrer schmalen weißen Oberarme spüren konnte. Selbst dieser Duft war anders, irgendwie feiner, als der anderer Leute.
Ich war in der Frühpubertät, ein wenig stumpf, ein wenig dumm, und von einer Unruhe erfüllt, die sich darin ausdrückte, daß ich ganze Sommer lang ein eigenes Boot aus Sperrholz zu bauen versuchte. Diese Boote fielen etwas zusammengestückelt und komisch aus,
Weitere Kostenlose Bücher