Risse in der Mauer: Fünf Romane (German Edition)
verstecken, zu schweigen, uns zu verstellen, das wissen wir ja. Lügen haben wir ja schon mehr als genug.
Zwei oder drei Tage blieb ich in dem Haus an der Fregestraße, wie viele es genau waren, weiß ich nicht mehr.
In dieser Woche leuchtete ein klares, nüchternes Oktoberlicht über Berlin, es durchdrang den feinen blauen Schleier von Steinkohlenrauch. Die großen Bäume an den Straßen der ruhigen Villenvororte waren noch grün, die Zigarettenreklamen an den Zeitungsständen leuchteten in frischen Farben.
Die Morgenstunden hatte ich für mich, da E. niemals vor elf Uhr aufsteht. Ich machte in diesen Tagen Morgenspaziergänge, in einem Zustand glücklicher Leere, und sah die Straßen zum Leben erwachen. Oder ich saß in E.’s großem hellen Wohnzimmer und hörte Bachs Goldbergvariationen aus seinen großen erstklassigen Lautsprecherboxen: Musik und Sonnenlicht.
Es waren Tage der glücklichen Leere: ein Zwischenspiel.
Mein Gastgeber störte mich kaum, er hielt sich meist in seinem riesigen Arbeitszimmer im Obergeschoß auf. Ich hörte seine elektrische Schreibmaschine mit unwirklicher Geschwindigkeit klappern: ich habe in meiner Jugend erstklassig ausgebildete Funker bei der Marine Morsetexte in die Maschine schreiben hören, nicht einmal sie schrieben so schnell.
Beim Frühstück führten wir ruhige, kluge Gespräche. In Berlin herrschte Ruhe, herrschten Kompromisse und Diskussionen in den Seminaren vor. Die Jahre der Demonstrationen waren zu Ende, und jetzt hatte etwas anderes begonnen, oder jedenfalls schien es so.
An den Abenden gingen wir manchmal aus. Irgendeine Freundin spielte in einer stillen Wohnung für uns Klavier, lud uns zu einer Zigarette mit blauem, haschischfarbenem Rauch ein.
Ich entschloß mich, Johanna Becker zu besuchen. Sie lud mich zum Lunch ein, ohne Umschweife und auf jene selbstverständliche Art, die mich schon im Flugzeug aus Frankfurt bei ihr hatte Schutz suchen lassen wie bei einer Mutter: sie schien mich und alles, was ich tat, als etwas völlig Natürliches zu betrachten.
Wie sich herausstellte, wohnte sie in einem stillen Haus in Steg-litz.
Als ich die Treppe heraufkam, stand sie schon in der geöffneten Tür ihrer Wohnung im zweiten Stockwerk und wartete auf mich. Sie hatte eine orangefarbene Bluse und braune Hosen an, ihr Kopf mit dem roten Haar erschien mir imponierend und noch majestätischer und respekteinflößender als bei unserer ersten Begegnung. Zu meinem Erstaunen trug sie eine große dunkle Brille, die ihre eigentümlichen, klugen Augen, wie sie mir noch von den Ereignissen von neulich her in Erinnerung waren, gänzlich verbarg.
– Sind Sie es?
– Ja, gewiß!
(Sie müßte mich eigentlich sehen, sie konnte nicht umhin, mich zu sehen.)
– Wissen Sie, heute morgen ist mir etwas ganz Merkwürdiges passiert. Ich bin fast blind, weil ich eine Art Bindehautentzündung bekommen habe. Ich glaube nicht, daß es gefährlich ist, ich habe mich für heute nachmittag bei einem Augenarzt angemeldet, aber immerhin ist es mir dadurch nicht möglich, Sie zu sehen; vielleicht habe ich die Entzündung bekommen, weil irgend etwas in mir Sie nicht sehen will, aber ich möchte Sie jedenfalls sehen. Und im Augenblick bedeutet es nur, daß Sie das Essen machen müssen.
Ich betrat den Flur. Er war sehr groß: über einer handgeschnitzten Eichentäfelung tanzten Nymphen und Satyrn aus einem vergangenen Jahrhundert. Durch buntbemalte Scheiben fiel Licht in das Wohnzimmer und in das riesige, mit Bücherwänden vollgestellte Arbeitszimmer, das bis zum letzten nur erdenklichen Fleck mit Manuskripten und Büchern vollgestopft war.
So kam es, daß ich vier Tage nach meiner Ankunft in Berlin in der Küche einer fremden Philosophin stand und nach Bratpfannen und Tomaten suchte.
Einem Impuls folgend, legte ich ihr die Tomaten feierlich in die Hand, eine nach der anderen, als beständen sie aus einem seltsamen, kostbaren Material und müßten mit äußerster Behutsamkeit behandelt werden.
In ihren Küchenschubladen konnte man sich erstaunlich leicht zurechtfinden. Messer und Gabeln mit gelben Elfenbeingriffen lagen in einer mustergültigen Ordnung, der Korkenzieher befand sich genau dort, wo ich ihn vermutet hatte, das Öl zischte in der Pfanne.
In einer Schublade lagen schwere silberne Dessertlöffel, mit Herzogkronen verziert und, wie ich vermutete, in der Endphase des Zweiten Weltkriegs aus einem brennenden, ausgebombten Haus geholt, liebevoll durch Lebensmittelkrisen gerettet, in
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